25. Januar 2023 – Zur Situation in Afghanistan als Sx-Ed – Quasi-Fortbildung durch Insider-Wissen

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Peter und Anne Marie Schwittek sind mir und der DGG persönlich bekannt (siehe Brief unten). Sie leben seit vielen Jahren vorwiegend in Afghanistan und kümmern sich mit dem Verein OFARIN* insbesondere um Grund- und Vorschulbildung von Kindern und der Unterricht für Frauen. Dieses Anliegen wird von uns auch durch finanzielle Spenden unterstützt. Für fachspezifische didaktisch-methodische Fragen steht auch die Beratungsstelle der DGG seit vielen Jahren zur Verfügung.

Ofarin Rundbrief 1/2023

Warum interessieren mich und uns die Menschen auf dem Land in diesem fast unbekannten und weit entfernten Land? Wenn wir überhaupt etwas in unseren Medien über Afghanistan erfahren, dann sind es Äußerungen von Regierungsvertretern oder aber Klagen von Mädchen, die zur Schule gehen oder studieren wollen, aber nicht dürfen. Die Verlautbarungen führender Taliban verursachen oft Kopfschütteln. Die lernwilligen Mädchen werden bedauert. Die verstehen wir. Sie wollen das, was Gleichaltrige bei uns können. Wir sind empört, dass Afghaninnen nichts lernen sollen.

Anne Marie und ich wissen aber von sehr vielen Afghanen, die in unseren Medien nicht vorkommen. Die ticken anders. Doch wenn man die Bedingungen sieht, unter denen sie leben, versteht man, dass sie so ticken, wie sie ticken.

Diese Menschen leben in Dörfern und Zelten, im Gebirge und in der Steppe. Sie sind Bauern oder Nomaden oder auch Handwerker (Müller, Bäcker, Schmiede, KfZ-Handwerker, Brunnenbauer).

In den ländlichen Gegenden, wo sie leben, dürfen Frauen und Mädchen von Männern, die nicht zum engsten Familienkreis gehören, nur total verschleiert gesehen werden. In manchen ländlichen Gegenden müssen Frauen, wenn sie ein Kind bekommen, das allein in einer Abstellkammer erledigen. In anderen ländlichen Gegenden dürfen Frauen immerhin bei Geburten helfen. Afghaninnen bekommen viele Kinder. Wehe, wenn sie keine Kinder kriegen! Oder fast genauso schlimm: Wehe, wenn sie nur Mädchen gebären!

Wie kommt es zu dieser Geringschätzung der Frau?

In unserem Sinne war Afghanistan nie ein entwickelter Staat. Für die Bevölkerung – zumal auf dem Land – gab es keine staatliche Justiz, keine Gerichte, keine Polizei. Aber was macht der Einzelne, wenn ein anderer ihn bestiehlt? Wenn ein anderer ihn öffentlich beleidigt? Ja, wenn der andere ihn umbringen will – und es gibt keine Polizei? Dann muss sich dieser Einzelne selber wehren, auch mit Gewalt. Er muss um sein Eigentum, um sein Leben und um das seiner Familie kämpfen.

Ganz früher gab es tatsächlich keine staatlichen Gerichte und keine Polizei. Heute gibt es das. Aber Polizei und Justiz sind korrupt. An die wendet man sich lieber nicht. Also muss man auch heute entschlossen sein, selber zu kämpfen.

Das Denken der Menschen im Gebirge und in den Steppen dreht sich sehr ums Kämpfen. Kampf ist ein ganz zentrales, dramatisches Ereignis. Da geht es um Leben oder Tod. Alles hängt davon ab, ob ein Mann sich im Kampf behauptet. Das bestimmt den Wert des Mannes für seine Familie. Kampf ist Männersache. Frauen mit ihren Kinderscharen sind beim Kampf nur lästig. Frauen nehmen an diesem für ihre Familie so entscheidenden Geschehen nicht teil. Eine Frau kann, mit allem was sie leistet, für ihre Familie nie so wertvoll sein, wie ein guter Kämpfer – ein Mann.

Es genügt auch nicht, dass ein Mann ein guter Kämpfer ist. Die anderen Menschen müssen wissen, dass er das ist. Mit der Familie eines guten Kämpfers legt man sich nicht an. Eine Familie muss den Ruf haben, dass sie wehrhaft ist. Hier kommt jetzt etwas ins Spiel, womit uns auch andere Menschen aus dem Orient oft nerven: Der Ruf der Familie – die „Ehre der Familie“.

Diese bezieht sich aber nicht nur auf die Wehrhaftigkeit. Eine Beleidigung kann niemand auf sich sitzen lassen. Auch die kann zu Kampf und Totschlag führen. Doch Beleidigungen von Familien, die einen tadellosen Ruf haben, gehen oft daneben. Die anderen Menschen wissen: Was da behauptet wird, stimmt nicht. In dieser Familie macht niemand so etwas Schlimmes. Der Beleidigte kann die feindselige Behauptung mit einer passenden Erwiderung ins Leere laufen lassen, und der Beleidiger hat seinen eigenen Ruf geschädigt. Ist aber der Leumund seiner Familie fragwürdig, kann sich der Beleidigte kaum mit Worten wehren. Dann muss er zurückschlagen – ja schlagen. Es ist also wichtig, dass über eine Familie nur Gutes gesagt werden kann, dass alle Familienmitglieder in Übereinstimmung mit den Normen der ländlichen Gesellschaft leben.

Ja, man darf nicht einmal den Verdacht aufkommen lassen, dass sich ein Mitglied der Familie liederlich verhält. Hat z.B. ein Mädchen einen langen Schulweg, könnten böse Nachbarn behaupten, dass sich das Mädchen mit fremden Jungen trifft. Die Familie des Mädchens kann die Behauptung kaum widerlegen. Sie weiß ja nicht genau, was auf dem langen Schulweg passiert. Also ist der Ehre der Familie am besten gedient, wenn das Mädchen nicht zur Schule geht. 

Dieses Rechtsverständnis der Afghanen auf dem Land ist Jahrtausende alt, viel älter als der Islam. Es ist nicht nur Sache der Familien, sondern auch Sache der größeren ethnischen Strukturen, der Sippen, der Clans, und der Stämme. Auch die können kriegerisch aneinander geraten, z.B. um Landbesitz oder um Wasserrechte.

Stammesälteste – das sind angesehene Männer – versuchen bei Streitfällen zwischen Familien wie auch zwischen Sippen oder Stämmen Blutvergießen zu begrenzen und Frieden zu stiften. Nach Beleidigungen versuchen sie, den Beleidiger dazu zu bringen, sich öffentlich zu entschuldigen. Gelingt das, ist der Fall erledigt. Ist ein Mord geschehen, drängen sie die Familie des Ermordeten dazu, ein Blutgeld von der Familie des Mörders als Kompensation anzunehmen. Wurden mehr Menschen getötet, muss Eskalation vermieden werden. Wurden drei Menschen ermordet, muss die Gegenseite Blutrache nehmen. Sie muss auch drei Männer töten – nicht mehr und nicht weniger. Genau dann ist die Beilegung der Feindschaft durch die Stammesältesten möglich.

Nur wenn beide Parteien den Schlichtungsvorschlag der Stammesältesten annehmen, ist ein Streit beigelegt. Mehr ist nicht möglich. Die Stammesältesten haben ja keine Polizei, die Rechtsfrieden erzwingen könnte. Mehr „Recht“ als dieses Schlichtungsrecht kann eine Stammesgesellschaft nicht leisten.

Für Afghanen, die auf dem Land leben, war das immer so. Alle haben die Regeln ihres Zusammenlebens verinnerlicht. Alle sind überzeugt, dass diese Regeln die einzig möglichen und richtigen sind. Ohne das Verbergen der Frauen vor der Öffentlichkeit, ohne die Ehre der Familie und ohne die Pflicht zur Blutrache können sie sich kein Zusammenleben vorstellen. Das gehört zu ihrer Identität. Für Afghanen vom Land ist das alles ebenso wichtig wie für uns die Menschenrechte.

Das war also mein Versuch, auf der Veranstaltung die Gesellschaft des ländlichen Afghanistans zu erklären. Wir hatten persönliche Erfahrungen mit dem Leben der Menschen auf dem Land gemacht. Einige davon finden Sie auf unserer Homepage ofarin.org und dort unter den „Ethnokrimis“. Die können Sie abschnittsweise lesen oder ausdrucken.

Im letzten Herbst trafen wir Khazan Gul, einen alten Freund in Afghanistan. Mit dem habe ich viel zusammen erlebt. Wir haben auch heftig miteinander gestritten. Vor allem habe ich viel von ihm über die Menschen erfahren, unter denen er lebt. Khazan Gul hat in Deutschland studiert, ist danach in sein Dorf in Afghanistan zurückgekehrt, weil er es für seine Pflicht hielt, sich für die Entwicklung seines Landes einzusetzen. Über die Möglichkeiten dieser Entwicklung hat er viel nachgedacht. Von anderen Afghanen unterscheidet er sich dadurch, dass er sich nicht wegen des Entwicklungsstandes seiner Heimat schämt, sondern offen und gerne darüber spricht. Ein junges Paar, Monika Koch und Heiner Tettenborn haben Khazan Gul 2004 in seiner Heimat besucht und mit ihm beschlossen, sei Leben aufzuschreiben. Das geschah dann bei Treffen in Afghanistan, in der Schweiz und in Deutschland. 2013 ist es als Buch unter dem Titel „Der Unbeugsame“ im Kahl-Verlag, Dresden erschienen (ISBN 978-3-938916-21-6).

Man muss nicht mit allen Gedanken, die in diesem Buch entwickelt werden, einverstanden sein, aber man bekommt einen sehr ehrlichen Einblick in das Leben im ländlichen paschtunischen Afghanistan, wo die Stammestraditionen sich besonders rein erhalten haben. Man erfährt, welche Regeln bei einer Blutrache eingehalten werden müssen und wie sorgsam und weitsichtig vieles entschieden werden muss – z.B. die Partnerwahl für eine Ehe – um spätere Auseinandersetzungen unwahrscheinlich zu machen.

Die Taliban kommen aus diesem stadtfernen Afghanistan. Die geschilderten Regeln sind für sie selbstverständlich. Der Islam ist als Religion der Stämme in Arabien entstanden. Seitdem halten die Menschen im ländlichen Afghanistan die Regeln ihres Zusammenlebens sogar für göttliche Gebote, obwohl manche Stammesgesetze nicht mit dem islamischen Scharia-Recht übereinstimmen.

Seit gut hundert Jahren versuchen afghanische Regierungen Afghanistan zu einem „modernen“ Land zu machen. Sie haben Schul- und Wehrpflicht eingeführt und versucht ein Justizsystem wie in europäischen Ländern zu errichten. Fachministerien wurden geschaffen und Heere von Beamten. Diese Maßnahmen wurden der Bevölkerung nicht erläutert, sondern von oben befohlen. Der islamische Klerus verlor an Einfluss auf die Schulerziehung und die Rechtsprechung und hintertrieb die Neuerungen. Etwa gleichzeitig begann Kamal Atatürk die Türkei auf ähnliche Art zu modernisieren.

Diese Modernisierungspolitik der Regierung bedrohte die traditionellen Regeln des Zusammenlebens der Menschen in den Steppen und im Gebirge und ließen sie fürchten, dass ihre Religion bedroht sei. Die Bewegung der Taliban setzte sich schließlich militärisch für die Verteidigung der herkömmlichen Traditionen ein und behauptete sich. Sicher wurden die Taliban von Pakistan gefördert, doch das soll nicht davon ablenken, dass sie für die traditionellen Regeln ihres Zusammenlebens gekämpft haben. Sie sind nicht aus einem islamistischen Höllenschlund gekrochen. Sie vertreten einen großen Anteil der afghanischen Bevölkerung.

Das Motto der Veranstaltung war „Afghanistan – was nun?“ Die Teilnehmer waren gekommen, weil sie sich diese Frage auch gestellt hatten. Doch wir von OFARIN konnten und wollten diese Frage, die wir gestellt hatten, nicht beantworten. Der Westen hatte gerade versucht, in Afghanistan eine demokratische Staatlichkeit zu organisieren und war gescheitert. Der Westen kann eben nur eine auf Rechtsstaatlichkeit basierende Demokratie, und davon ist die afghanische Gesellschaft viel zu weit entfernt. „Demokratie light“ gibt es nicht. Auch wenn der Westen viele Fehler, die er zweifellos in Afghanistan gemacht hat, vermieden hätte, konnte das nicht klappen. Das wissen wir jetzt hinterher. Dann weiß man immer vieles besser als vorher.

Also wir – der Westen und auch wir von OFARIN – sollten uns zurückhalten, und Afghanistan nicht schon wieder erklären, wie ihr Staat aussehen muss. Wir können uns klar machen, wer die Akteure sind. Das war eingangs in unserer Veranstaltung versucht worden. Offensichtlich ist inzwischen, dass die Taliban mit ihren Vorstellungen vom Zusammenleben der Menschen nicht in der Lage sind, ein funktionierendes Staatswesen zu schaffen.

Andrerseits können wir ergänzen, dass die ländliche Stammesgesellschaft über einige Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben verfügt. Bei den Sippen und Stämmen finden häufig lange dauernde Versammlungen statt. Dort werden gemeinsame Probleme diskutiert. Dabei lernt jeder die Interessen der anderen Familien kennen. Jeder kann die eigenen Entscheidungen so treffen, dass möglichst alle anderen damit zurecht kommen. Das findet allerdings unter der Drohung statt, dass sich im Falle, dass derjenige, der die Interessen eines anderen grob verletzt, zu Kampf und Blutrache gezwungen ist.

Außerdem zielen Versammlungen, der Stämme, Sippen und Clans auf einstimmige Beschlüsse ab. Mehrheitsbeschlüsse sind für eine verbleibenden Minderheit nicht bindend, denn es gibt keine Polizei des Stammes oder der Sippe, die die Minderheit zwingen könnte, der Entscheidung der Mehrheit zu folgen. Aber einstimmige Beschlüsse kommen in der Regel nur selten zu Stande. In der Regel sind die Interessenlagen dazu zu verschieden.

Dennoch müssen die Afghanen ihre Zukunft selber in die Hand nehmen. Vermutlich ist es hilfreich, wenn andere Länder dabei mit wohlwollender Beratung helfen. Doch dann müssten Sie die Taliban-Regierung anerkennen und könnten Afghanistan auch wirtschaftlich besser unterstützen.

OFARINs Unterricht ist sicher für die Zukunft des Landes richtig. Er wird von der Bevölkerung gerne akzeptiert. In einigen ländlichen Gebieten müsste man bei der Einführung des Unterrichts für Mädchen etwas Geduld aufbringen. Aber in vielen ländlichen Gegenden ist der Wunsch nach Unterricht auch für Mädchen eher stark. Der Mann, der für alle Moscheen in der Provinz Logar zuständig ist, also ein hoher Taliban-Funktionär, fragte uns im Herbst, ob wir nicht in seiner Heimat eine weitere Klasse für Mädchen und Frauen eröffnen können. Er würde sich freuen, wenn seine Frau lesen und schreiben lernt. Wir konnten. Auf dem Land dürfte der Wunsch nach Unterricht auch für Mädchen in absehbarer Zeit OFARINs wirtschaftliche Möglichkeiten weit übersteigen.

Sehr sinnvoll wäre es, allen Kriegern der Taliban eine Grundausbildung im Lesen, Schreiben und Rechnen, wie sie OFARIN anbietet, angedeihen zu lassen. Diese Männer brauchen Perspektiven für ein Leben ohne ihre Kalaschnikows. Andernfalls bleiben sie ein gefährliches Unruhepotential für eine friedliche Entwicklung. Eine solche Aufgabe liegt aber weit über OFARINs Möglichkeiten.

Herzliche Grüße, Peter Schwittek

* https://www.ofarin.org – Der Verein OFARIN e.V. wurde 1996 in Deutschland gegründet, um die Lebensbedingungen der Menschen in Afghanistan zu verbessern. Schwerpunkte der Projektarbeit sind die Grund- und Vorschulbildung von Kindern und der Unterricht für Frauen. OFARIN ist eine Abkürzung von „Organisation zur Förderung afghanischer regionaler Initiativen und Nachbarschaftshilfen“. In den afghanischen Landessprachen Dari und Paschtu bedeutet „Ofarin!“ oder „Afarin!“ soviel wie „Prima!“ oder „Genau richtig!“ – Die Unterstützung dieser konkreten ehrenamtlichen Vor-Ort-Projektarbeit kann ich guten Gewissens empfehlen.

Spenden sind steuerlich abzugsfähig. Der Verein ist vom Finanzamt Würzburg als gemeinnützig anerkannt.

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