„2010 hat sie die Geschichte vom o.b. Tampon geschrieben – quasi als Vermächtnis. Wir gedenken unseres verdienten Ehrenmitgliedes insbesondere am Geburtstag, am 12.11.192, und Todestag, am 11. Mai 2020. Frau Esser hat sich um die Mädchen- und Frauenhygiene und die Sexualbildung in und außerhalb der Schule verdient gemacht“, so der Vorsitzende Linus Dietz in Würzburg.
Die Geschichte vom o.b. Tampon
Die Idee kam Dr. Carl Hahn, dem in den Westen geflüchteten geschäftsführenden Gesellschafter der Auto Union, bei der zufälligen Lektüre einer Tamponwerbung in einer weggeworfenen amerikanischen Illustrierten, die er vom Boden aufgehoben hatte. Tampons – das war’s doch! Tampons würden die Vorlagen ablösen, die in der Nachkriegszeit qualitativ zu wünschen übrig ließen. Sie brauchten nur ein Fünftel der für Binden eingesetzten Materialmenge, waren also deutlich ökonomischer. Und der Gedanke bestach, dass im Gegensatz zu Autos ein Menstruationsschutz immer gebraucht wird.
Dem Juristen Dr. Heinz Mittag war Hahn noch in Sachsen begegnet, die beiden hatten sich für die Zeit nach dem Krieg verabredet. Sie trafen sich am Rhein und machten sich daran, die Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Wochen- und monatelang reisten sie durch die drei westlichen Besatzungszonen, um einen Fabrikanten zu finden, der bereit und in der Lage war, einen Automaten zu Herstellung von Tampons zu bauen.
Inzwischen war klar geworden, dass die Herren frauenärztliche Unterstützung brauchten. Diese wurde gesucht und gefunden in der Landesfrauenklinik Wuppertal, deren Direktor Professor K.- J. Anselmino das Projekt vorbehaltlos begrüßte. Er benannte seine Assistentin Dr. Judith Esser für die Zusammenarbeit und stellte seine Kontakte zu weiteren Meinungsbildnern und Spezialisten im akademischen Bereich zur Verfügung.
So wurde der ab. Tampon in der Form entwickelt, die er heute noch hat: ein fünf Zentimeter breiter Wickel aus Verbandwatte, gepresst auf einen Durchmesser von 2,5 cm um die Einführung zu erleichtern – diese mußte im Gegensatz zu dem amerikanischen Prototypen nicht mithilfe eines Applikators aus Pappe bewerkstelligt werden. Erst 1960 wurde in einem amerikanischen Lehrbuch die Information entdeckt, dass das Herstellungsprinzip schon in der Antike bekannt war: Hippokrates (460-473 B.C.) beschrieb einen Menstruationsschutz in Form von Röllchen aus Baumwollfasern. Alles schon mal da gewesen! – das wirklich Neue am Tampon war die Möglichkeit der industriellen Massenfertigung.
In Wuppertal wurde eine kleine Verbandstofffabrik erworben, um das Know-how der Watteverarbeitung zu sichern. Ein Konstrukteur wurde gewonnen, der Erfahrung mit dem Bau von Zigarettenmaschinen hatte – auch da wird gewickelt. Ludwig von Holzschuher, Werbeberater in München, hatte die Idee, je zehn Tampons in die Gebrauchsanweisung zu verpacken und das Ganze zu cellophanieren. Als Markennamen schlug er „ab.“ vor (- „ohne Binde“). Der Name war unauffällig auszusprechen, das gefiel den Konsumentinnen. Der Konkurrenz hingegen gefiel der Name Überhaupt nicht, sie Überzog das junge Unternehmen mit einer Serie von Prozessen, weil „ohne Binde“ als herabsetzend empfunden wurde. Der erklärende Zusatz musste gestrichen werden, aber es gelang nicht, die aufkommende Neuerung zu unterdrücken.
Als Nächstes war der Vertrieb in die Wege zu leiten. Das junge Unternehmen konnte sich keine Verkaufsorganisation leisten, 13 selbstständige Handelsvertreter Übernahmen das Produkt auf eigene Rechnung Gefahr. Sie waren mit ihren DKW-Schnelltransportern unterwegs, die als Büro und Lager und manchmal auch zum Übernachten dienten. Stolz präsentierten sie im Handel eine innovative Verkaufshilfe: Ein sogenannter „Stummer Verkäufer“, ein chromblitzender Aufsteller, in dem zwölf Packungen o.b. Übereinander geschichtet waren. Die Kundin konnte unten ein Päckchen entnehmen und es an der Kasse zwecks Bezahlung hinlegen, ohne ein Wort Über die Lippen zu bringen – damals war das ja alles noch so peinlich …
Am 13.3.1950 gingen die ersten o.b. Tampons über den Ladentisch. Nun sollten die Binden — diese zwar unbequeme, aber doch übersichtliche Verfahrensweise — durch ein Watteröllchen ersetzt werden, das im Körper verschwand… Wohin wohl? Löste es sich auf wie eine Tablette? Verstopfte es wie ein Flaschenkorken? Wanderte es im Körper umher wie eine verirrte Pistolenkugel?? Es war offenkundig, daß zwischen dem, was damals in der Werbung und in Drucksachen gesagt werden durfte und dem, was die Frauen der Fünfziger Jahre über ihren Körper und seine Funktionen wussten, ein breiter Streifen Niemandsland lag.
Die wenigsten Mütter brachten es fertig, ihre heranwachsenden Töchter über die Menstruation zu informieren. In den Schulen war es nicht üblich, auf das Thema einzugehen. Noch 1968 gab es Biologiebücher, in denen die Geschlechtsorgane nicht vorkamen. Der Mensch, eine Phantomzeichnung, war mit einer Badehose bekleidet, und während der Brustkorb aufgeklappt und die Bauchhöhle eröffnet und das Rückgrat von vorne sichtbar wurde, blieb die Badehose -züchtig an ihrem Platz. Der „Gläserne Mensch“, von manchen fortschrittlichen Schulen als Unterrichtshilfe angeschafft, war ein Neutrum: Das kleine Becken war leer. Wenn man die dorthin gehörigen Teile für das Modell erwerben wollte, musste man sie unter einer gesonderten Nummer extra bestellen.
Es war offenkundig: Hier wurde nicht nur ein Produkt verkauft, sondern an einem soziokulturellem Prozeß gearbeitet. Das Unternehmen entschied sich für systematische Aufklärung. Informationskreise für Ärzte, Gesprächsrunden mit Journalisten wurden ins Leben gerufen, mit Frauenorganisationen und Sportvereinen kooperiert, Informationsmaterial entwickelt, eine flächendeckende Verbraucher- und Telefonberatung etabliert. Mitte der Sechziger Jahre begann die Werbung im Klartext zu argumentieren. Aufklärung per Zeitschriftenanzeige — das war neu! Die ganzseitigen Anzeigen wurden von Anfang an begierig aufgenommen.
Im Oktober 1968 empfahl die ständige Konferenz der Kultusminister, in allen Schulen der Bundesrepublik den Sexualkundeunterricht einzuführen. Nun konnte das Unternehmen sein Know-how einsetzen mit dem Schulpaket; mit dem Erste-Regel-Set; mit dem Telefonservice, bei dem die Mädchen nur zuhören, keine Fragen zu stellen brauchten, und mit der Broschüre „50 Tage im Jahr“, in der den Fragen zur Menstruation und ihre Hygiene der gebührende Platz eingeräumt wurde — selbst der Sexualkundeatlas des Gesundheitsministeriums überging dieses Thema! Diese Veröffentlichung hat ungewöhnliches Aufsehen erregt, viel ist über sie gesprochen und geschrieben worden. Lehrkräfte in großer Zahl haben um Übersendung von Unterrichtsmaterial gebeten. Auch viele Ärzte bekundeten ihr Interesse und begrüßten die Möglichkeit, ihre Patientinnen umfassend zu unterrichten Noch nie gab es so viele wissbegierige Zuschriften, und die Nachfrage nach Informationspackungen überrollte das Unternehmen förmlich.
Endlich führten die jahrzehntelangen Bemühungen um eine breite Aufklärung zum Durchbruch, dabei half das gesellschaftliche Klima in diesen Jahren. Die „o.b.-Flygiene“ ist mit der Entwicklung des aktiven und weltoffenen Frauentyps eng verknüpft. Tampons sind eben mehr als ein Gebrauchsartikel, sie berühren den Kern des Frauenlebens, und sie machen alles mit, was Frauen mitmachen. In den 70er Jahren standen 100 o.b.-Automaten in allen Teilen der Welt, mehr als eine Milliarde Tampons pro Jahr wurden schon damals in sechzig Ländern verkauft. In Deutschland konnte der Hersteller den größten Anteil am Markt für Menstruationsschutz übernehmen und war — weit über seine kommerziellen Interessen hinaus — als eine starke treibende Kraft auf dem Gebiet der Gesundheitserziehung wahrgenommen und anerkannt.
Dr Judith Esser Mittag, 2010