Beitrag der DGG eV für 2020 Welt-Tag der sexuellen Gesundheit
Würzburg/Berlin – Vorsitzender Linus Dietz, Dipl-Päd. (Univ.), Würzburg, zum World Sexual Health Day 2020: „Sexualität und Gesundheit gehören zusammen – vom Anfang bis zum Ende des Lebens!“ „Gut, dass Forschung zu diesem bisher tabuisierten Bereich als „Expedition Intimsphäre“ in die Gänge kommt. Wir dürfen auf die Ergebnisse gespannt sein.“
Karolina Kolodziejczak, 28, Psychologin an der Humboldt Universität Berlin, erforscht das Sexualleben alter Menschen und erklärt selbstbewusst, „auch wenn mir die praktische Erfahrung dazu fehlt.“ Sie kann mit noch nicht 30 erklären, warum es aufregender ist, als man denkt, über Sexualität in allen Altersstufen – insbesondere 60 plus – zu forschen, und auch warum junge Menschen davon lieber nichts wissen wollen. Sie fragt nicht nur sich: „Warum erwarten wir immer noch, dass ältere Menschen asexuell sind?“ Theoretisch weiß sie dafür umso mehr über das Liebesleben von älteren Menschen, weil sie „Sexualität, Intimität und romantische Beziehungen im Alter“ zu ihrem Forschungsschwerpunkt gemacht hat und dazu akribisch Daten und Fakten sammelt.
Die DGG hält die Forschung auf dem Gebiete der Sexualität als „Expedition Intimsphäre“ für dringend geboten und unterstützt Forschungsvorhaben in Theorie und Praxis. – Obwohl ein sexualisiertes Überangebot in den Medien zu herrschen scheint und nicht nur junge Menschen ihr Wissen aus den schnellen Medien saugen, fehlt ein aussagekräftiges Spektrum mit detaillierten Antworten, z. B. bei einer fortschreitenden Überalterung der Gesellschaft: what´s about sex in this case?
Die DGG dankt für diese interessante Grundlagenforschung und auch für die Mitgliedschaft. Man(n) lernt nie aus. Weiter so! Quelle: http://www.dgg-ev-bonn.de/
Sexualität im Alter: ein Tabu-Thema, bei dem sich endlich etwas bewegt
Bild: 2018 Karolina*Berlin referier an der Humboldt in Berlint für die DGG aktuelle Forschungsergebnisse zum Thema „AlterX“ (Dietz) und aktualisiert für die DGG-Informationen 2020/9
Sexualität und Intimität im Alter gehörten lange zu den Themen, über die ungern gesprochen wurde. In den Medien, Altersheimen und in der Wissenschaft herrschte Unbehagen und Unsicherheit, wie an dieses Thema heranzugehen sei. Und wer sich mit diesem Thema ausführlich und vorurteilsfrei auseinandersetzen wollte, musste zuerst diese Schweigebarriere überwinden.
Vielleicht stellen sich bis heute auch deswegen viele Fragen, wenn es um das Sexualleben der über 60-Jährigen geht: wie häufig werden ältere Menschen eigentlich miteinander intim? Wünschen sie sich ein aktives Sexualleben, oder gerät dieser Lebensbereich immer weiter aus dem Fokus? Und was ist das Geheimnis eines erfüllten Liebeslebens – sind zum Beispiel ältere Singles sexuell aktiver als die langjährigen Paare, oder andersrum?
Mit diesen und anderen Fragen beschäftigten sich in einer Studie zu Sexualität im Alter Forscherinnen und Forscher mehrerer deutscher Forschungseinrichtungen wie der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universitätsmedizin Charité und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Die Ergebnisse ihrer Studie wurden im Mai 2019 in der amerikanischen Fachzeitschrift Psychology and Aging veröffentlicht. Die Analysen basierten auf Daten der breit angelegten Berliner Altersstudie II (BASE-II) von 1514 Erwachsenen im Alter von 60 bis 82 Jahren (im Durchschnitt 70 Jahre alt) und einer Kontrollgruppe aus 475 Erwachsenen zwischen 22 und 36 Jahren (im Durchschnitt 30).
Die Forscher*innen postulierten, dass Sexualität auf verschiedenen Ebenen zum Ausdruck kommt: der Verhaltensebene (sexuelle Aktivität), der kognitiven bzw. Gedankenebene (sexuelle Gedanken) und der emotionalen Ebene (Intimität). Für ein vollständiges Bild des sexuellen Erlebens solle keiner der drei Bereiche vernachlässigt werden. Deswegen untersuchten sie Unterschiede in sexueller Aktivität, sexuellen Gedanken und Intimität zwischen und innerhalb der beiden Altersgruppen. Vor allem die Untersuchung der emotionalen Ebene, also der Gefühle, welche durch Körperkontakt und Sex entstehen, wie das Sicherheitsgefühl, Geborgenheit und Akzeptanz, war ein Forschungsansatz, der in der Altersforschung der Sexualität bis dato relativ wenig Aufmerksamkeit bekam.
Was zeigten die Ergebnisse? Wie erwartet, waren die älteren Studienteilnehmenden im Durchschnitt seltener sexuell aktiv als die jungen Teilnehmenden. Ein ähnlicher, sogar noch größerer Unterschied zeigte sich für sexuelle Gedanken: ältere Erwachsene berichteten im Durchschnitt von deutlich weniger Gedanken an Sex und körperliche Nähe als die jüngere Vergleichsgruppe. Innerhalb der jüngeren und der älteren Stichprobe gab es weitere interessante Ergebnisse: je älter die Studienteilnehmenden über 60 waren, desto seltener berichteten sie von sexueller Aktivität und sexuellen Gedanken. Bei den jüngeren Befragten zeigte das Alter aber keinen Zusammenhang mit der Häufigkeit sexueller Aktivität oder sexueller Gedanken.
Interessanterweise tauchte ein ganz anderes Muster für die emotionale Ebene der Sexualität, also Intimität auf: es gab keinen (statistischen) Zusammenhang zwischen dem Erleben von Intimität und dem Alter der Befragten, weder in der jungen, noch in der älteren Untersuchungsgruppe. Im Durschnitt konnten die Forscher*innen zudem nur einen geringen Unterschied zwischen den Jungen und den Alten beobachten, wonach die älteren Befragten etwas seltener angaben, Intimität zu erleben.
Die durchschnittlichen Unterschiede zwischen Jung und Alt waren nicht alles, was das Forscherteam interessierte. Unter den befragten älteren Erwachsenen waren solche dabei, die innerhalb des letzten Jahres gar nicht sexuell aktiv gewesen waren, und solche, die angaben, mindestens einmal pro Woche mit jemandem körperlich intim gewesen zu sein. Genauere Analysen zeigten, dass ganze 30% der älteren Befragten von mehr sexueller Aktivität und 27% von mehr sexuellen Gedanken berichteten als der Durchschnitt der Jungen!
Um diese Unterschiede besser zu verstehen, nahmen die ForscherInnen eine Reihe von weiteren individuellen Charakteristika unter die Lupe. Unter anderem untersuchten sie, inwiefern das Sexualerleben mit Faktoren wie dem Geschlecht, diagnostizierten Krankheiten, körperlicher Fitness (gemessen an der Griffkraft) und verschiedenen Aspekten zwischenmenschlicher Beziehungen – zum Beispiel, ob die Teilnehmenden in einer festen Partnerschaft lebten, und wenn ja, seit wie vielen Jahren und wie zufrieden sie mit der Beziehung waren – im Alter zusammenhängt. Auch ging es darum, ob sexuelle Aktivität, Gedanken und Intimität damit im Zusammenhang stehen, wie einsam sich die Person fühlt.
Da Sexualität im Alter lange aus der medizinischen und nur selten aus der psychologischen Perspektive erforscht wurde, ist bis heute der Zusammenhang zwischen Sexualität und Krankheiten im Alter besser untersucht als die Rolle, die psychosoziale Faktoren wie z.B. Einsamkeit spielen. Es liegt aber nahe, dass Sexualität im Alter nicht nur von der körperlichen, sondern auch der psychischen Verfassung und der sozialen Einbettung abhängt. Somit versuchten die Forscher*innen in ihrer Studie neben den gut untersuchten Geschlechterunterschieden und Zusammenhängen mit Gesundheit auch die Beziehungsaspekte miteinzubeziehen.
Die Ergebnisse zeigten, dass je nach Facette der Sexualität unterschiedliche Faktoren besonders wichtig waren. Es stellte sich zum Beispiel heraus, dass Männer zwar von mehr sexueller Aktivität und mehr sexuellen Gedanken als Frauen berichteten, aber nicht von mehr Intimität. Ein ähnlicher Effekt in Bezug auf Intimität tauchte bei der Beziehungsdauer auf: Studienteilnehmende, die länger in einer festen Beziehung waren, berichteten von weniger sexueller Aktivität und weniger sexuellen Gedanken, aber von genauso viel Intimität wie diejenigen in kürzer dauernden Beziehungen. Anders war es wiederum bei der Einsamkeit – diejenigen ProbandInnen, welche sich in ihrem Alltag einsamer fühlten, waren seltener sexuell aktiv und erlebten weniger Intimität, aber die Häufigkeit der Gedanken an körperliche Nähe war gleich.
Was sagen die Autor*innen zu den Befunden? „Es war damit zu rechnen, dass ältere Menschen im Durchschnitt seltener sexuell aktiv sind als die Jungen. Auch, dass die 80-Jährigen von weniger Sex als die 60-Jährigen berichten. Allerdings haben wir darüber hinaus große interindividuelle Unterschiede bei den älteren Menschen erfassen und ein paar Faktoren identifizieren können, auf welche ein Teil dieser Unterschiede zurückzuführen ist“, berichtet die Psychologin Karolina Kolodziejczak, Erstautorin der oben zitierten Studie. Unter den vielen interessanten Ergebnissen findet sie vor allem den Befund zur Rolle der Einsamkeit für die Sexualität im Alter besonders bedeutsam. „In unserer Studie berichteten die einsameren Personen von einem genauso großen Wunsch nach körperlicher Nähe wie die weniger Einsamen, erlebten aber weniger von der gewünschten Nähe.
Das wirft sofort die Frage auf, wie sich diese Diskrepanz auf die Gesundheit und das Wohlbefinden dieser Menschen auswirkt.“, ergänzt Kolodziejczak.
Anhand der Daten lässt sich nicht feststellen, ob die Einsamkeit manchen Menschen im Weg steht, ein erfülltes Sexualleben zu führen, oder ob fehlende sexuelle Aktivität und Intimität dazu führen, dass man sich einsamer fühlt. Auch können wechselseitige Einflüsse und dritte, noch unbekannte Variablen, die den Zusammenhang verstärken, nicht ausgeschlossen werden. Die Fragen nach der Rolle sexueller Aktivität für das Wohlbefinden im Alter bleiben in dieser Studie ebenfalls weitestgehend unbeantwortet. Allerdings setzen sich immer mehr Forscher*innen weltweit mit diesen und ähnlichen Fragen auseinander. Ihre Studien liefern Hinweise darauf, dass die Befriedigung von universellen Grundbedürfnissen, zu denen körperliche und emotionale Nähe gehören, bis ins hohe Alter eine wichtige Rolle spielt und mit guter physischer und psychischer Gesundheit und höherer Lebenszufriedenheit zusammenhängt.
Auch das Forscherteam um Prof. Dr. Denis Gerstorf und Karolina Kolodziejczak am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin arbeitet intensiv an weiteren Projekten zu Sexualität in der zweiten Lebenshälfte, welche Antworten auf einige der vielen offenen Fragen liefern sollten. Zum Beispiel, ob die Bedeutung der Sexualität sich über die letzten Dekaden hinweg gewandelt hat, oder wie das alltägliche Erleben von körperlicher Nähe bei älteren Paaren mit ihrem Stresserleben und ihrer Stimmung zusammenhängt.
Die Ergebnisse sollen zu einem besseren Verständnis dieses Lebensabschnittes beitragen, damit noch bewusster und effektiver für die Lebensqualität der immer älter werdenden Bevölkerung gesorgt werden kann.
Das Bewusstsein, dass Sexualität und Gesundheit zusammengehören, wächst. Auf die Forschungsergebnisse bleiben selbst die Forscher*innen gespannt.