1. März 2023 – Berühmt berüchtigt: HELMUT KENTLER

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Zwischenbericht:
Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe
Am 19. Dezember hat die Universität Hildesheim gemeinsam mit der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie einen Zwischenbericht zum Aufarbeitungsprojekt „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“ vorgestellt. 
Das bis Ende 2024 laufende Projekt soll insbesondere der Frage nachgehen, wie dieses Netzwerk sich differenzierter beschreiben lässt und wie das Landesjugendamt Berlin darin positioniert ist, d. h. welche organisationalen Verwobenheiten und Verantwortlichkeiten sich auch über Berlin hinaus rekonstruieren lassen. 

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Zwischenbericht

„Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe – Aufarbeitung der organisationalen Verfahren und Verantwortung des Berliner Landesjugendamtes“

Projektlaufzeit (insgesamt): 01.03.2019 bis 30.09.2023 Berichtszeitraum: 01.03.2019 bis 31.10.2022

Ausführende Stelle:

Projektteam: Kontakt:

Universität Hildesheim
Institut für Sozial- und Organisationspädagogik

Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Allge- meine Erziehungswissenschaft
Prof. Dr. Meike Baader, Prof. Dr. Wolfgang Schröer, Nastassia Laila Böttcher, Dr. Carolin Ehlke, Dr. Carolin Oppermann, Dr. Julia Schröder

E-Mail: jhberlin@uni-hildesheim.de Universitätsplatz 1, 31141 Hildesheim

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1. Einleitung

Im Rahmen des Ergebnisberichts der im Juni 2020 abgeschlossenen und von den Instituten für Sozial- und Organisationspädagogik sowie Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität Hildesheim durchgeführten Aufarbeitung zu „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“ – gefördert von der Berliner Senatsverwaltung – konnte als zentrales Ergebnis herausgearbeitet werden, dass die Senatsverwaltung in ihrer Funktion als Landesjugendamt während der Heimreform der 1970er Jahren die Einrichtungen von Wohngemeinschaften und Pflegestellen bei pädophilen Männern nicht nur geduldet hat, sondern sie auch in der Fallver- antwortung der Senatsverwaltung lagen:

  • Jugendhilfesystematisch wurde entfaltet, dass in der Fallverantwortung und Verantwor- tungsstruktur des Landesjugendamts Pflegestellen nach § 69 Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) und damit als eine Maßnahme der sogenannten Freiwilligen Erziehungshilfe (FEH) und Fürsorgeerziehung (FE) eingerichtet wurden. Dabei existiert ein Schreiben mit einem Aktenzeichen in einer Fallakte, das belegt, dass es zumindest eine Pflegestelle bei einem Pflegevater gegeben hat, die durch das Landesjugendamt (Senatsverwaltung) als Wohngemeinschaft begründet wurde und in der es, so ein Betroffener, zu Übergriffen und Grenzverletzungen kam, was auch nach Aussage einer Fachkraft in der Retrospek- tive als nachvollziehbar beschrieben wird.
  • Weiterhin führen Zeitzeugen*innengespräche sowie der Austausch mit anderen Aufar- beitungsprozessen zu der begründeten Annahme, dass es weitere Pflegestellen resp. Wohngemeinschaften bei pädophilen Männern in West-Deutschland gegeben haben kann, die in der Fallverantwortung der Senatsverwaltung in Berlin standen und in denen junge Menschen aus Berlin untergebracht wurden. Es wird berichtet, dass verantwortli- che Mitarbeiter*innen der Senatsbehörde diese Pflegestellen begleitet und in den 1970er Jahren in West-Deutschland aufgesucht haben. Diese Unterbringungen wurden zu Be- ginn mitunter auch Wohngemeinschaften genannt und sind im Verlauf der 1970er Jahre u. a. als Pflegestellen – häufig heilpädagogische Pflegestellen – ebenfalls von Bezirksju- gendämtern in Berlin belegt worden. In diesem Fall wurden auch jüngere Jugendliche und Kinder in diesen Pflegestellen untergebracht.11 Den Begriff der Pädophilie verwenden wir so, wie wir es in unserem ersten Bericht erläutert haben und sind uns der Problematik, die mit ihm verbunden ist, bewusst. So heißt es in unserem Ergebnisbericht vom 15.06.2020: „Der Begriff der Pädophilie impliziert einige Probleme und Fragen, deren wir uns bewusst sind. Dazu gehört auch die Unterschei- dung zwischen Pädophilie und Pädosexualität, wir verwenden im Bericht ebenfalls beide Begriffe. Der Begriff der Pädophilie geht historisch auf den Psychiater Krafft-Ebbing zurück, der ihn in seiner ‚Psychopatia Sexualis‘ von 1886 einführte. Verwendet wird er bis heute auch im ICD, dem internationalen Klassifikationssystem der WHO, dort be- zeichnet er eine sexuelle Präferenzstörung, die sich auf präpubertäre und am Anfang der Pubertät stehende Kinder bezieht, unabhängig von der tatsächlichen Realisierung. Der Begriff der Päderastie bezeichnet ein Begehren, das sich auf pubertäre bis spätpubertäre männliche Jugendliche richtet. Ende der 1980er Jahre kam in den entsprechenden Diskursen und in der Sexualwissenschaft der Begriff der Pädosexualität auf mit dem Argument, dass es um Sexualität gehe, und dass der bis dahin geläufige Begriff der Pädophilie verschleiernd sei, da er die Liebe zu Kindern akzentuiere (vgl. Becker 2017). Tatsächlich wird im Pädophilie legitimierenden Diskurs der 1970er Jahre diese Liebe zu Kindern besonders hervorgehoben (vgl. Baader 2017: 70f.). In der Sexualwissenschaft wird von vielen der Begriff der Pädose- xualität zur Beschreibung der Begehrensstruktur, die sich auf Kinder und Jugendliche richtet, als angemessener be- trachtet als der Begriff der Pädophilie. Auch viele Aufarbeitungsprojekte verwenden ihn. Das seit 2005 existierende Präventionsprojekt an der Charité Berlin verwendet die Begriffe noch einmal anders, indem unter Pädophilie die sexuelle Orientierung und unter Pädosexualität die sexuelle Handlung verstanden wird (vgl. Becker 2017: 314). Ob- wohl wir in unserem Bericht den Begriff der Pädophilie benutzen, sind wir uns seiner verschleiernden Implikationen bewusst und unterstreichen, dass es im Kontext der von uns untersuchten Pflegestellen um sexualisierte Gewalt und um Kindesmissbrauch geht. Insgesamt ist die Ignoranz und Blindheit gegenüber der Anwendung von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gerade Teil des sogenannten Pädophiliediskurses der 1970er bis 1990er Jahre (vgl. Baader

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  • Zudem zeigen Berichte von (ehemaligen) Fachkräften und Betroffenen, dass in der Pfle- gekinderhilfe der Kontakt zwischen den jungen Menschen und den Erwachsenen, den späteren Pflegevätern, mitunter auch durch Institutionen der Senatsverwaltung, wie z. B. der niedrigschwelligen Kontakt- und Beratungsstelle (KuB), ermöglicht wurde.
  • Durch die Aussagen von Fachkräften und die organisationsbezogenen Rekonstruktionen kann ferner davon ausgegangen werden, dass innerhalb der Senatsverwaltung nicht nur eine Person entsprechende Wohngemeinschaften resp. Pflegestellen begleitet hat, son- dern es mehrere Mitarbeiter*innen gab, die in eine Fallverantwortung eingebunden und an unterschiedlichen Stellen in den Abteilungen tätig waren.
  • Schließlich wurde als Ergebnis festgehalten, dass auch die Pflegestellen, von denen Hel- mut Kentler selbst im Kontext seines sog. „Experiments“ berichtet, in dieser Verantwor- tungsstruktur gelegen haben können.2
  • Darüber hinaus haben sich nach der Veröffentlichung des Ergebnisberichts weitere Zeit- zeug*innen und Betroffene bei dem Hildesheimer Forscher*innenteam gemeldet. Die Gespräche mit den Betroffenen und Zeitzeug*innen haben neue Hinweise in Bezug auf mögliche Verwobenheiten des Landesjugendamts – auch über Berlin hinaus – geliefert.
  • Insgesamt gehen wir davon aus, dass es ein Netzwerk3 von Akteur*innen gab, durch das pädophile Positionen geduldet, gestärkt und legitimiert wurden sowie pädophile Über- griffe in unterschiedlichsten Konstellationen nicht nur geduldet, sondern auch arran- giert und gerechtfertigt wurden. Es ist davon auszugehen, dass mehrere Mitarbeiter*in- nen der Senatsverwaltung sowie von Bezirksjugendämtern in dieses Netzwerk verfloch- ten waren und dadurch organisational die Zugänge, z. B. für pädophile Männer zu den jungen Menschen, geschaffen und legitimiert sowie die Fallverantwortung der Jugend- wohlfahrt und der Jugendgerichtshilfe der Senatsbehörde übernommen haben können.Die hier punktuell zusammengefassten Ergebnisse des vorausgegangenen Aufarbeitungspro- jekts und die seitdem erfolgten neuen Hinweise von betroffenen Personen, Zeitzeug*innen so- wie aus dem Austausch mit weiteren Aufarbeitungsprojekten machen deutlich, dass es einer Fortführung der Aufarbeitung bedarf, insbesondere in Hinblick auf die Fragen danach, wie die-2017)“ (Baader et al. 2020, S. 9). Darüber hinaus verwenden wir die Begriffe der Pädophilie und Pädosexualität mitun- ter in Anlehnung an die geführten Interviews und schließen uns der jeweiligen Begriffsnutzung der betroffenen Per- sonen (siehe unten) an.
    2 Wir verwenden, ebenfalls wie in unserem ersten Ergebnisbericht, den Begriff „Experiment“ durchgängig in Anfüh- rungsstrichen, um zu verdeutlichen, dass es sich um einen von Helmut Kentler selbst eingeführten Begriff handelt und nicht um die Begriffswahl der Verfasser*innen des Berichts.3 Wir möchten darauf hinweisen, dass wir auch in der aktuellen Aufarbeitungsphase weiterhin den Netzwerkbegriff aus dem o. g. Ergebnisbericht der vorhergehenden Projektphase verwenden. Wenn wir von Netzwerk sprechen, dann sind damit lose gekoppelte und vor allem informelle Beziehungsstrukturen gemeint, die mehrere Zentren und Orte haben können, keine klaren Grenzen haben und quer durch die Institutionen verlaufen. Zudem sind die Akteur*innen in unterschiedlicher Form mit unterschiedlichen Aktivitäten und Interessen in diesem Netzwerk verflochten. Es sind bspw. Unterstützer*innen von Personen in der Verwaltung, Politik und in der wissenschaftlichen Gemeinschaft in diesem Netzwerk verflochten, die wiederum selbst gar nicht in der Pflegekinderhilfe oder Heimerziehung aktiv waren oder nicht selbst pädophil orientiert waren und sehr unterschiedlich Pädophilie bzw. Pädosexualität tolerierten, ak- zeptierten oder mitunter dieser auch indifferent gegenüberstanden. Der Netzwerkbegriff impliziert nicht, dass es durchgängig einheitliche Intentionen gab. Grundlegend ist die Verflechtung von direkten und indirekten Beziehun- gen, die das Netzwerk ausmacht und den Akteur*innen ermöglichte und damit dazu verhalf, in den und mit den formalen Infrastrukturen der Jugendwohlfahrt und Kinder- und Jugendhilfe zu wirken. Netzwerke einer Pädophilen- szene wurden auch in anderen Forschungskontexten identifiziert.

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ses Netzwerk sich differenzierter beschreiben lässt und wie das Landesjugendamt darin positio- niert ist, d. h. welche organisationalen Verwobenheiten und Verantwortlichkeiten sich rekon- struieren lassen.

Aus diesem Grund haben die oben genannten Institute ein weiteres Aufarbeitungskonzept erar- beitet – „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe – Aufarbeitung der organisationalen Verfahren und Verantwortung des Berliner Landesjugendamtes“. Auf der Grundlage dieses Konzepts wurde eine weitere Forschungszuwendung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (SenBJF) an die Universität Hildesheim zur Aufarbeitung erteilt.

Für die erste Aufarbeitung wurde am 23. März 2019 ein Ethikantrag bei der Ethikkommission des Fachbereichs „Erziehungs- und Sozialwissenschaften“ der Universität Hildesheim gestellt. Am 29. März 2019 wurde von der Kommission ein positives Votum abgegeben. Aus Sicht der Ethikkommission liegen gegen die Durchführung der Studie keine ethischen Bedenken vor. Die- ses Votum ist aus Sicht der Ethikkommission auch für die aktuelle Aufarbeitung weiterhin gül- tig, da es sich um eine Fortsetzung der ersten Aufarbeitung handelt und das Forschungsdesign im methodischen Vorgehen identisch ist.

2. Ziele und Anliegen der Aufarbeitung

Der bisherigen Argumentation folgend geht es im Rahmen der wissenschaftlichen Aufarbeitung darum, die damaligen organisationalen Strukturen, Verfahren und Verwobenheiten des Berliner Landesjugendamts weiter aufzuarbeiten. Im Fokus der Aufarbeitung steht damit einerseits, die Verfahren, in denen das Landesjugendamt Verantwortung für Kinder und Jugendliche getragen hat, zu rekonstruieren. Andererseits sollen die Verflechtungen des Landesjugendamts mit ande- ren Institutionen und Akteur*innen herausgearbeitet werden. Insbesondere gilt es, das Netz- werk von Akteur*innen weiter aufzuschlüsseln und zu analysieren, wie pädophile Personen, Mitwisser*innen, Unterstützer*innen etc. zusammengewirkt haben. Daraus ergeben sich drei zentrale Fragekomplexe:

  1. Wie kann die Aufarbeitung die Anliegen von Betroffenen unterstützen? Zentral für die Betroffenen ist dabei die Frage nach der Verantwortlichkeit und nach dem Ausmaß der Übergriffe und Grenzverletzungen unter öffentlich-organisierter Aufsicht. D. h., wie können die zur Verfügung stehenden Akten bzw. Daten so aufbereitet werden, um den Betroffenen das für sie relevante Wissen und die für sie relevanten Informationen zur Verfügung zu stellen?
  2. Wie lassen sich die verschiedenen Entscheidungsformen und Verläufe der Verfahren, in denen das Landesjugendamt in Fallverantwortung stand, aus einer organisationsanaly- tischen Perspektive rekonstruieren? Insbesondere gilt es zu rekonstruieren, welche or- ganisationalen Akteur*innen in welcher Form in den Verfahren des Landesjugendamts beteiligt waren, zusammengearbeitet und damit grenzverletzende Strukturen möglich gemacht haben.
  3. Abschließend gilt es, die Verwobenheiten und Verflechtungen des Landesjugendamts mit anderen Berliner sowie deutschlandweiten Institutionen und Akteur*innen heraus- zuarbeiten, um insbesondere die Struktur bzw. die sich hier andeutenden Netzwerke nachzeichnen und rekonstruieren zu können, inwiefern hier pädophile Positionen ak- zeptiert, gestützt oder auch gelebt wurden.

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Methoden und Vorgehensweise

Um die organisationalen Strukturen, Verfahren und Verwobenheiten des Landesjugendamts in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe analysieren zu können, bedarf es der Grundlage verschie- dener Quellen, die – soweit möglich – aufbereitet und eingeschätzt werden müssen. Das for- schungspraktische Vorgehen orientiert sich dabei an den vier Forschungsperspektiven, die im Zuge der Aufarbeitung von „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“ entwickelt und sich dabei als zielführend erwiesen haben:

  • Forschungsperspektive I – Betroffenenbeteiligung und -interviews
  • Forschungsperspektive II – Aktenanalyse
  • Forschungsperspektive III – Zeitzeugen*inneninterviews
  • Forschungsperspektive IV – Fachöffentlicher DiskursIm Folgenden werden die vier Forschungsperspektiven mit den entsprechenden Methoden so- wie Vorgehensweisen erläutert und erste Zwischenergebnisse der Analyse vorgestellt.

3 Zwischenergebnisse – Überblick

Erstens kann auf der Grundlage der Interviews mit Betroffenen und Zeitzeug*innen, der Ak- tenanalysen sowie der jeweiligen Fachdiskurse aufgezeigt werden, dass Helmut Kentler und das beschriebene Netzwerk über die Pflegekinderhilfe hinaus in weitere Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe verflochten war und auch dort sexualisierte Gewalt und Übergriffe stattfanden. Da- mit lassen sich weitere Konstellationen in der Kinder- und Jugendhilfe rekonstruieren, in denen auch Helmut Kentler selbst sowie andere Personen sexualisierte Gewalt ausgeübt haben. Der ausschließliche Fokus auf die Pflegekinderhilfe ist folglich zu eng und es bedarf der Inblick- nahme u. a. der Jugendgerichts- und Bewährungshilfe, der Adoptionsvermittlung, der kirchli- chen Gemeinde- und Jugendarbeit, von Ferienfreizeiten sowie der sexualpädagogischen und ge- schlechterbezogenen Bildungsarbeit. Dieser Fokus ergibt sich, wie oben bemerkt, aus den Inter- views.

Zweitens machen zwei betroffene Personen deutlich, dass ihnen nicht bekannt ist, inwiefern bei jenen Unterbringungsformen öffentliche Dienste involviert waren bzw. inwiefern Helmut Kent- ler mit öffentlichen Diensten in Kontakt stand. Insbesondere eine betroffene Person macht sehr deutlich, dass ihre Ferienreisen fernab jeglicher jugendhilferechtlich-formalisierter Verfahren initiiert worden sein müssen. Es wurde den jungen Menschen somit kaum transparent gemacht, wie sich die jeweiligen Konstellationen, in denen sie lebten oder an denen sie teilnahmen, orga- nisational verantwortet und legitimiert waren.

Drittens wird ersichtlich, dass jenes Netzwerk, mit dem Helmut Kentler verwoben war, bis in die Gegenwart wirkt. Es wirkt in Form von verschiedenen Akteur*innen bzw. Akteurspositionen. Zunächst können hier Wissenschaftler*innen genannt werden, die – so auch ein bisheriges Zwi- schenergebnis der aktuellen Aufarbeitungsphase – die Schriften Helmut Kentlers weiterhin re- zipiert haben bzw. rezipieren und sich somit weder eindeutig von der Figur Kentler und seinen Positionen und Handlungen distanziert, die über ihr Wissen über sexualisierte Übergriffe in die- sem Kontext und darüber hinaus nicht berichten, noch sich kritisch mit seinen Positionen und Handlungen auseinandergesetzt haben. Des Weiteren gehören zu diesen Akteur*innen ehema- lige Mitarbeiter*innen der damaligen Jugendwohlfahrt, die das Wirken Helmut Kentlers baga- tellisieren und seine pädagogischen Positionen weiterhin heroisieren oder die persönlichen Ver- wobenheiten relativieren. Dies schließt auch Vertreter*innen der evangelischen Kirche mit ein,

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die Gewalt und Grenzverletzungen ignorieren, indem sie auf kritische Anfragen nicht reagieren. Ebenso finden sich Einzelpersonen, die die Positionen Helmut Kentlers nach wie vor befürwor- ten bzw. verteidigen oder bagatellisieren. Diese verschiedenen Akteurs- oder „Bystander“4-Posi- tionen erzeugen bei den Betroffenen Gefühle von Angst bis hin zu Ohnmacht und Hilflosigkeit. Entsprechend verfügen auch diese Akteur*innen oder „Bystanders“, insbesondere der wissen- schaftlichen und der fachlichen Öffentlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe, bis heute über eine Macht, die die Betroffenen bedrohen und der sie ausgesetzt sind.

Insgesamt lässt sich damit eine Entgrenzung des sogenannten „Experiments“ konstatieren. Als ein erstes zentrales Ergebnis muss damit festgehalten werden, dass der bisherige Fokus auf die Person Helmut Kentler, auf die Pflegekinderhilfe, auf Berlin und auf die Zeit der 1960er und 1970er Jahre viel zu eng ist und sich stattdessen ein breiteres Netzwerk rekonstruieren lässt, wie bereits im vorausgehenden Abschlussbericht dargelegt, das die Positionen Helmut Kentlers ge- duldet, legitimiert, rezipiert und unterstützt hat.

Als ein wesentlicher Akteur innerhalb dieses Netzwerks ließ sich dabei das damalige Landesju- gendamt Berlin identifizieren. In dieser Aufarbeitung wird ein besonderer Schwerpunkt auf die- sen Akteur gelegt, da ihm als Aufsichts- und ausführende Behörde einerseits eine besondere Bedeutung in der Ausführung und Ermöglichung sexualisierter Gewalt, andererseits zugleich die zentrale Verantwortung für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor einer Kindeswohlge- fährdung zukommt.

3.1 Forschungsperspektive I: Betroffenenbeteiligung und -interviews

Das vorliegende Aufarbeitungsvorhaben geht von einem Recht auf Aufarbeitung aus. Dieses Recht inkludiert die Pflicht von Organisationen, aufzuarbeiten und Verantwortung zu überneh- men, auch wenn die Übergriffe schon weit zurückliegen. Dabei ist eine Aufarbeitung von einer organisationsinternen fallbezogenen „Fehleranalyse“ klar zu unterscheiden, in der vor allem im Rahmen der Qualitätsentwicklung verfahrensbezogene Konsequenzen aus aktuellen und ver- gangenen Fallverläufen gezogen werden. Vielmehr wird über ein Recht auf Aufarbeitung der Betroffenen für Organisationen, wie die Jugendämter und Landesjugendämter, eine Pflicht und ein Auftrag für Aufarbeitungsprozesse begründet und – soweit es geht – die Betroffenen unter- stützt.

Zentral für die Betroffenen ist dabei die Frage nach der Verantwortlichkeit und nach dem Aus- maß der Übergriffe und Grenzverletzungen unter öffentlich-organisierter Aufsicht. Um das Recht der Betroffenen auf Aufarbeitung zu verwirklichen, gilt es daher, die zur Verfügung ste- henden Akten bzw. Daten so aufzubereiten, dass ihnen relevantes und intersubjektiv nachvoll- ziehbares Wissen zur Verfügung gestellt werden kann. Ferner gilt es, die Betroffenen – soweit es diese wünschen – zu beteiligen und ihre Perspektiven, Deutungsmuster und Relevanzsetzungen zu berücksichtigen. Insgesamt ist es von grundlegender Bedeutung – wird dem Anspruch einer

4 Der Begriff „Bystander“ beschreibt eine Person, die von einem grenzverletzenden bzw. gefährlichen Geschehen weiß, jedoch nicht interveniert. Dabei geht die Haltung dieser Person auf die „(…) Leugnung von Verantwortung bzw. der Zurückweisung von Verpflichtungen einem möglichen Opfer gegenüber“ zurück (Imbusch 2017: 50 f.). Im Kontext der Aufarbeitung verwenden wir diesen Begriff um zu verdeutlichen, dass Akteur*innen der wissenschaftlichen sowie fachlichen Öffentlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe von Übergriffen sowie Grenzverletzungen durchaus wussten, jedoch nicht interveniert, sondern diese bis heute geduldet und legitimiert haben.page6image3640994416

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adressat*innenorientierten Kinder- und Jugendhilfe gefolgt –, das Er- und Überleben der Be- troffenen in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe – soweit sie es erlauben – zu rekonstruieren und als einen fachlichen Maßstab der Bewertung anzuerkennen.

Nach der Veröffentlichung des Ergebnisberichts der vorausgegangenen Aufarbeitung haben sich beim Forscher*innenteam der Universität Hildesheim drei weitere betroffene Personen gemel- det. Mit den drei betroffenen Personen sowie einer selbst gewählten Vertrauensperson einer betroffenen Person wurde jeweils ein erstes sondierendes Gespräch geführt. In diesen Gesprä- chen wurden die Ziele sowie das Vorgehen der Aufarbeitung besprochen und den betroffenen Personen zugesagt, ihnen das vorliegende Aufarbeitungs- sowie Datenschutzkonzept zu ihrer Kenntnis und Zustimmung zukommen zu lassen. Zwei betroffene Personen haben anschließend ihre Zustimmung dazu gegeben, ein Interview mit je zwei der Wissenschaftler*innen zu führen. Die dritte betroffene Person hat sich nach der Zusendung des vorliegenden Aufarbeitungs- sowie Datenschutzkonzepts nicht wieder bei den Wissenschaftler*innen der Aufarbeitung gemeldet.

Die Gespräche und Interviews mit den betroffenen Personen haben insgesamt neue Hinweise in Bezug auf organisationale Strukturen und mögliche Verwobenheiten des Landesjugendamts, insbesondere in Hinblick auf das Wirken bzw. die Rolle Helmut Kentlers innerhalb dieser Struk- turen, geliefert und bilden eine wesentliche Grundlage für diesen Zwischenbericht.

Es soll vorab angemerkt werden, dass das Forscher*innenteam im weiteren Verlauf der Darstel- lung der ersten Zwischenergebnisse ausschließlich von „betroffenen Personen“ sprechen wird. Zum einen, um geschlechtliche Vielfalten sowie Besonderheiten zu wahren bzw. keine ge- schlechtlichen Positionierungen vorzunehmen. Zum anderen stehen Aufarbeitungen im Kon- text des normativen Anspruchs, die persönlichen Rechte von Betroffenen zu schützen und damit Anonymität zu gewährleisten. Die Zusicherung größtmöglicher Anonymität ist geboten, da die betroffenen Personen in beeindruckender Weise ihre massiven Ängste und ihre Verunsicherun- gen schildern, die Gewalterfahrungen öffentlich zu machen und von bestehenden wissenschaft- lichen Netzwerken diffamiert und verletzt zu werden bzw. in öffentlichen (wissenschaftlichen, kirchlichen etc.) Kreisen auf Zurückweisung zu stoßen. Die betroffenen Personen machen damit deutlich, dass und inwiefern die Netzwerke auch heute noch existieren und wirken, indem sie bei den betroffenen Personen hohen Druck und Ängste erzeugen, wenn sie ihre Geschichte und ihr Leid berichten und letztendlich Wissenschaftler*innen oder anderen öffentlichen Funkti- onsträger*innen damit vertrauen.

Die Gespräche mit den betroffenen Personen haben verdeutlicht, dass Aufarbeitung keinen his- torischen Schlussstrich setzen kann. Denn Helmut Kentlers Pädagogik, sein Wirken und sein Handeln sind nicht abgeschlossen; sie wirken in dem Leben und in den Erfahrungen der be- troffenen Personen, der Beteiligten und der Organisationen auf unterschiedlichen Ebenen wei- ter und sind immer auch ein Teil der Gegenwart und der Zukunft.

Vorgehen

In den Betroffeneninterviews dieser Aufarbeitungsphase geht es einerseits entsprechend des or- ganisationalen Fokus des Aufarbeitungsvorhabens darum, Betroffene nach ihren biographischen Erfahrungen in Bezug auf die Verfahren und Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe und nach dem Wirken von Helmut Kentler innerhalb dieser Verfahren zu fragen. Im Sinne der Auf- arbeitung soll rekonstruiert werden, wann und wie innerhalb dieser Verfahrensstrukturen die persönlichen Rechte der Betroffenen verletzt wurden, um die Erfahrungen der Betroffenen als

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einen wichtigen Maßstab anzuerkennen. Andererseits ist bei den Interviews neben der Gewin- nung von Informationen und der subjektiven Rekonstruktion des Geschehens insbesondere auch zentral, den persönlichen Erfahrungen und dem Leiden sowie der Leidensgeschichte der Betroffenen Raum zu geben und diese durch und mit der subjektiven Erzählung anzuerkennen.

Von hoher Wichtigkeit war dabei, gemeinsam mit den betroffenen Personen zu besprechen und auszuloten:

  • wie es möglich sein kann, Helmut Kentler in seinem unmittelbar gewaltsamen Handeln zur öffentlichen Verantwortung zu ziehen, ohne dabei jedoch die Rechte der betroffenen Personen zu verletzen, d. h. ohne die betroffenen Personen in irgendeiner Weise zu beschädigen und jegliche Rückschlüsse auf ihre Personen zu verhindern;
  • wie es möglich sein kann, dass weitere (öffentliche) Funktionsträger*innen mit ihren Pädosexualität legitimierenden Einstellungen und u. a. übergriffigen sexuellen Handlungen sich in Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe und darüber hinaus bewegen konnten und in welchen Verantwortungsstrukturen das übergriffige Handeln ermöglicht wurde;
  • wie es möglich sein kann, der Öffentlichkeit transparent zu machen, welchem Druck, welchen Ängsten und welchen Verunsicherungen sich betroffene Personen im Rahmen von Aufarbeitung ausgesetzt fühlen.Die Form der Interviewführung wurde im Vorfeld mit den betroffenen Personen besprochen. Mit der einen betroffenen Person und ihrer Vertrauensperson wurden mit zwei Forscher*innen des Forscher*innenteams zunächst ein Vorgespräch und im Anschluss daran zwei Interviews geführt. Mit der anderen betroffenen Person wurde nach einem telefonischen Vorgespräch mit zwei Forscher*innen des Aufarbeitungsteams ein digitales Interview geführt. Mit beiden betroffenen Personen wurde vereinbart, das Interview als strukturiertes Leitfadeninterview zu gestalten. Vor den Interviews wurden den betroffenen Personen und ggf. ihren Vertrauenspersonen eine Einwilligungs- und Datenschutzerklärung zugesandt.Zu Beginn der Interviews wurden gemeinsam Verabredungen für den Verlauf getroffen. Dazu gehörte, dass die betroffenen Personen lediglich das erzählen, was sie auch erzählen möchten, und dass sie selbstverständlich das Recht haben, Fragen des Leitfadens auch nicht zu beantworten. Auch eine Exit-Option – die Möglichkeit, das Interview jederzeit zu unter- oder abzubrechen – wurde stets offengehalten. Der erste Teil der Interviews war insofern offen gestaltet, als dass die betroffenen Personen gebeten wurden, den Forscher*innen zunächst zu erzählen, was ihnen wichtig ist und was das Aufarbeitungsteam aus ihrer Sicht wissen sollte. Im zweiten Teil der Interviews wurden die betroffenen Personen gebeten, einige Fragen zu beantworten, die im Hinblick auf Helmut Kentlers Wirken innerhalb der organisationalen Strukturen in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe und darüber hinaus von Bedeutung sind. Zum Abschluss der Gespräche wurde jeweils die Gelegenheit angeboten, Aspekte anzusprechen, die den betroffenen Personen wichtig waren und über die im Verlauf der Interviews noch nicht gesprochen wurde.Methodisch orientiert sich die Auswertung an erprobten Verfahren der qualitativen und historischen Sozialforschung zur Auswertung biographischer Interviews, die darauf zielen, soziale Wirklichkeit zu ordnen, zu verdichten und zu verstehen.

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Betroffeneninterview I

Die betroffene Person, mit der die Forscher*innen der Aufarbeitung zwei Interviews geführt ha- ben, lebte in den 1970er Jahren als jugendliche Person bei Helmut Kentler in dessen Wohnung in Berlin. Die betroffene Person stellt sich selbst die Frage, in welcher Form – also z. B. als Ju- gendhilfemaßnahme – sie bei Helmut Kentler gelebt hat, da sie dies nicht rekonstruieren kann. Erinnerbar ist für die betroffene Person jedoch, dass sich die eigene Familie in einer prekären Situation befand, als die betroffene Person zu Helmut Kentler gezogen ist. Auch den Mitarbei- ter*innen der Aufarbeitung ist es bis dato nicht gelungen, die vorübergehende Unterbringung bei Helmut Kentler organisational zu rekonstruieren. Während der Zeit bei Helmut Kentler hatte die Person regelmäßigen Kontakt zu ihrer Familie, auch wenn dieser Kontakt als wenig unterstützend beschrieben wird.

Die betroffene Person berichtet von weiteren jungen Menschen, die bei Helmut Kentler mitun- ter zeitweilig gelebt haben; einen dieser jungen Menschen hat Helmut Kentler adoptiert (aus- führlich hierzu Nentwig 2021). Bei den zeitweilig untergebrachten Jugendlichen handelte es sich zumeist um straffällig gewordene junge Menschen aus der Jugendstrafanstalt Plötzensee, die Helmut Kentler zu sich in die Wohnung „holte“, noch bevor deren Strafe abgesessen war. Diese Unterbringungsform sei von Helmut Kentler als „Resozialisierungsmaßnahme“ gerahmt wor- den, d. h. die Jugendlichen, die überwiegend aus prekären Verhältnissen stammten, zogen bei Helmut Kentler als eine Maßnahme der Resozialisierung im Haushalt ein, wofür ihnen stets ein Teil der Haftstrafe erlassen wurde. Zwar habe die Jugendgerichts- und Bewährungshilfe diesem Vorgehen aufgrund des „guten Rufs“ von Helmut Kentler zugestimmt, es ist jedoch weiter zu recherchieren, ob Helmut Kentler hierzu eine offizielle Erlaubnis hatte oder ob sich hier eine analoge Struktur zur Pflegestelle Fritz H. (siehe Baader et al. 2020) nachzeichnen lässt, über die Helmut Kentler sich selbst als Experte inszenierte, um auf diese Weise fernab organisationaler Strukturen Zugang zu jungen Menschen zu generieren und diese bei sich unterzubringen zu können.5

Die betroffene Person berichtet, dass sie und die anderen jungen Menschen während dieser Zeit bei Helmut Kentler massiven Übergriffen und sexualisierter Gewalt durch Helmut Kentler selbst ausgesetzt waren. Insbesondere junge Menschen im Alter von 10 bis 14 Jahren bezeichnete Hel- mut Kentler als „seine Favoriten“. Die Hilferufe der betroffenen Person wurden jedoch von Sei- ten der Familie ignoriert. Erst als die betroffene Person älter wurde, konnte sie sich gegen die Übergriffe von Helmut Kentler wehren, indem sie ihn „geschlagen“ habe. Ab diesem Zeitpunkt stimmte Helmut Kentler einer Rückkehr der betroffenen Person in die eigene Familie zu.

Vor diesem Hintergrund stellt sich für die betroffene Person die sehr nachvollziehbare Frage, wie Helmut Kentler bis zu seiner Emeritierung an der Universität Hannover trotz seiner eigenen Pädokriminalität und seiner strafrechtlich nicht erlaubten Positionen lehren konnte und bis zu seinem Tod nie dafür belangt wurde. Die betroffene Person geht davon aus, dass das bereits

5 Seine Inszenierung als Experte erfolgte dabei, so lässt es sich anhand seiner Schriften, insbesondere in seinem Buch „Leihväter“ (Kentler 1989) rekonstruieren, einerseits mit Rekurs auf wissenschaftliche Studien, andererseits aber auch auf seine eigenen Erfahrungen mit, von ihm so bezeichneten, „verhaltensauffälligen Jugendlichen“ (ebd.: 140 ff.). Auf- fällig ist in diesem Zusammenhang auch Helmut Kentlers Abwertung der Familien der von ihm so bezeichneten Ju- gendlichen. Diese Familien werden von Helmut Kentler für die Schäden und Leiden der Jugendlichen verantwortlich gemacht. Diese „tiefen Kränkungen“ durch die Familie würden, so Kentler, durch die pädosexuellen Kontakte und durch die Pflegeväter „geheilt“ (ebd.: 140).page9image3644406720

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erwähnte Netzwerk aus Akteur*innen um die Person Helmut Kentler nicht nur von seinen pä- dophilen Positionen, seiner Legitimation sexueller Handlungen zwischen Kindern und Erwach- senen und damit seiner Legitimation sexualisierter Gewalt und auch seiner eigenen sexuellen Gewalthandlungen wusste, sondern diese geduldet, gedeckt und damit legitimiert hat. Im Zuge der medialen Berichte, vor allem im Nachgang der Veröffentlichung des Abschlussberichts der vorausgehenden Aufarbeitung, die für die betroffene Person nur schwer auszuhalten und zu le- sen waren, ist es für sie unerträglich geworden, dass Helmut Kentlers eigene sexualisierte Ge- walthandlungen bisher nicht öffentlich gemacht wurden.

Die betroffene Person beschreibt, dass sie bis ins Erwachsenenalter sowohl von Mediziner*innen als auch von Psychotherapeut*innen in der Erzählung ihres Leids in der Kindheit und Jugend nicht ernst genommen wurde. Das Aufbringen des Mutes, diese Stellen aufzusuchen, sich diesen Stellen zu öffnen und zu berichten, was zuvor für die betroffene Person unsagbar war und teil- weise heute noch ist, und gleichzeitig dort – in einem vermeintlich geschützten Rahmen – eine solche Zurückweisung zu erfahren, war für die betroffene Person massiv belastend. Die be- troffene Person verdeutlicht, dass sie lange Zeit nicht wusste, an wen sie sich mit ihren Erfah- rungen und ihrem Wissen hätte wenden können.

Insgesamt gilt es – den Berichten der betroffenen Person folgend – als eine weitere organisatio- nale Struktur, die Verfahren der Jugendgerichts- und Bewährungshilfe in Hinblick auf die Ver- letzungen der Rechte von jungen Menschen aufzuarbeiten. Dies bedeutet, zu rekonstruieren, wie Akteur*innen wie Helmut Kentler durch Gutachten und Fremdunterbringungen im Rahmen von Resozialisierungsmaßnahmen Gewalt und Grenzverletzungen begangen und/oder ermög- licht haben.

Betroffeneninterview II

Darüber hinaus gilt es, den fallbezogenen Hinweisen der weiteren betroffenen Person nachzu- gehen, dass Helmut Kentler und die „Kreise“ um ihn auch in die kirchliche Gemeindearbeit hin- einreichten.

Die betroffene Person berichtet im Rahmen eines Interviews sowie vor- und nachgehenden Te- lefonaten aus dem Kontext einer evangelischen Kirchengemeinde in West-Deutschland, in der sie über ein Familienmitglied im Jugendalter Anschluss fand. Die Anerkennung, die die be- troffene Person in der Kirchengemeinde erfuhr, bekam sie weder in ihrer Familie noch von Gleichaltrigen, sondern von einzelnen pädosexuellen Männern, auf die sie in dieser Kirchenge- meinde traf.

Die betroffene Person berichtet von Kontakten zu diesen pädosexuellen Männern. Sie macht deutlich, dass sich die Männer untereinander kannten und von der kirchlichen Gemeinde auch ohne eine bekannte offizielle Gruppe – anders als bspw. „Männerkreise“, „Altenkreise“ oder „ho- mosexuellen Gruppen“, die monatlich in der Kirchengemeinde angeboten wurden – Unterstüt- zung erfuhren. Durch die Unterstützung, die die Männer erfuhren, entstand für die betroffene Person der Eindruck, dass diese Männer aufgrund ihrer Pädophilie bzw. Pädosexualität einer „Opfergruppe“ angehören bzw. als „unterdrückte Minderheit“ gerahmt und hergestellt wurden.6 Die betroffene Person berichtet weiter, dass sie des Öfteren bei einzelnen dieser pädosexuellen

6 Der Diskurs um die Legitimation von Pädophilie der 1970er und 1980er Jahre war dadurch gekennzeichnet, dass Pädophile als „Opfergruppe“ und als „Betroffene“ bezeichnet wurden (vgl. Baader 2017). Die Einordnung der betroffe- nen Person macht deutlich, dass dieser Diskurs wirkte und zu dieser Umkehr bei der Einschätzung beitrug.page10image3644824560

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Männer zu Hause war und mit ihnen auf Reisen ging. Im Kontext dessen kam es zu sexualisierter Gewalt, worüber sie sich jedoch „keine großen Gedanken gemacht“ hat, da die Männer Zeit für sie hatten und durch ihr Umfeld stets als „die Guten“ gerahmt wurden, weshalb ein intendiert übergriffiges Handeln „unmöglich“ sein konnte.

Sich selbst beschreibt die betroffene Person zur damaligen Zeit als auf verschiedenen Ebenen benachteiligt und verdeutlicht, dass die männlichen Personen diese Lage ausnutzten. In dieser Ausnutzung von Benachteiligungspositionen zeigt sich eine gemeinsame Struktur der bisher untersuchten Fälle.

Diese Männer aus der Kirchengemeinde machten die betroffene Person u. a. mit verschiedenen Vereinen und Institutionen, die explizit Homosexuelle adressierten, bekannt. In einem dieser Vereine – so berichtet die betroffene Person weiter – wurde ein sogenannter Pädophilenstamm- tisch eingerichtet, sodass die betroffene Person hierüber Berührungspunkte mit „der Pädophi- lenszene“ hatte. Aus heutiger Sicht benennt die betroffene Person, dass es, unter dem Deckman- tel der Fürsorge, primär um sexualisierte Gewalt und Ausbeutung ging.

Ein Gemeindemitglied der Kirche wird durch die betroffene Person mehrfach im Interview als ein zentraler Akteur beschrieben. Das Gemeindemitglied war laut der betroffenen Person öf- fentlich zum Thema Homosexualität aktiv und ebenso Sexualberater in der Kirchengemeinde. Die betroffene Person berichtet zudem von einer weiteren Person, deren Pädophilie allgemein- hin in der Kirchengemeinde bekannt war. Diese pädophile Person hatte ein Pflegekind bei sich aufgenommen und suchte in der Kirchengemeinde Unterstützung hinsichtlich des noch unkla- ren weiteren Verbleibs des Kindes bei ihr. So berichtet die betroffene Person diesbezüglich von Gesprächen zwischen dem zentralen Kirchengemeindemitglied und der pädophilen Person zu Themen wie Adoption und „Kinderfürsorge“. Auch Helmut Kentler war über das zentrale Kir- chengemeindemitglied mit der pädophilen Person bekannt. Allerdings ist unklar, wie oder wo der Kontakt zwischen diesen drei Personen/Akteuren entstand. Inwiefern es zu Übergriffen sei- tens des Pflegevaters gegenüber dem Pflegekind kam oder in welcher Weise das Pflegeverhältnis in Jugendhilfestrukturen eingebettet war, ist ebenfalls unklar.

Die betroffene Person berichtet außerdem, dass das zentrale Gemeindemitglied der Kirche ein sehr gutes Verhältnis zu Helmut Kentler selbst pflegte, weshalb dieser auch einige Male die evangelische Gemeinde besuchte und so sporadische Kontakte zwischen Helmut Kentler und der betroffenen Person entstanden. Helmut Kentler hielt auch Vorträge zu verschiedenen The- matiken in der Kirchengemeinde und stand den Zuhörer*innen „Frage und Antwort“.

Die Hinweise der betroffenen Person im Interview beziehen sich nicht nur auf eine evangelische Kirchengemeinde, sondern gehen darüber hinaus. So benennt die betroffene Person weitere Ak- teur*innen und Institutionen, die pädophile Positionen gestützt haben. In nahegelegenen Städ- ten in West-Deutschland suchte die betroffene Person bspw. im Jugendalter verschiedene Zen- tren, Vereine, Beratungsstellen und Lokalitäten auf, deren Programmatiken teilweise explizit an Jugendliche gerichtet waren. Die betroffene Person berichtet, dass Pädophile bzw. Pädosexuali- tät legitimierende Standpunkte in vielen dieser Institutionen befürwortet wurden. Hier stieß die betroffene Person ebenfalls auf Akteur*innen des pädosexuellen Kreises der Heimatkirchenge- meinde. Helmut Kentler war dabei ebenfalls eine Figur, auf die die betroffene Person immer wieder, auch im Erwachsenenalter, an verschiedenen Orten getroffen ist, so etwa auch in Verei- nen und Lokalitäten in Hannover.

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Die gesamten Erzählungen rahmt die betroffene Person mit den historischen Gegebenheiten der damaligen Zeit („Emanzipationsbewegungen“ mit Blick auf Homosexualität oder „Kirche von unten“), die es aus ihrer Sicht verunmöglichten, Pädophilie bzw. Pädosexualität legitimierende Positionen und Praktiken zu hinterfragen bzw. hinterfragen zu dürfen. Erst durch die wissen- schaftliche Aufarbeitung und Forschung, wie bspw. durch Teresa Nentwig, erschloss sich für die betroffene Person ein Netzwerk, in das verschiedene Akteur*innen und Institutionen eingebet- tet bzw. verwoben waren. So ist die betroffene Person auch noch in jüngster Zeit bspw. in einer bekannten Bildungseinrichtung in West-Deutschland auf eine Person getroffen, die Pädophilie bzw. Pädosexualität legitimierende Positionen nicht kritisch hinterfragt, sondern vielmehr die Figur und Positionen Helmut Kentlers „verteidigt“.

Verlautbarte Zweifel und Kritik seitens der betroffenen Person an dem Wirken der Kirchenge- meinde und an Pädophilie sowie Pädosexualität legitimierenden Positionen wurden und werden jedoch nach ihren Aussagen teilweise bis in die heutige Zeit hinein sowohl im familiären als auch in öffentlichen Kreisen nicht ernst genommen. Dies, so die betroffene Person, betrifft auch die eigenen geschilderten Missbrauchserfahrungen. Jahre später traf sie in einer Lokalität zufällig auf das genannte zentrale Kirchengemeindemitglied und sprach die eigenen Missbrauchserfah- rungen offen an. Das Gespräch erweckte bei der betroffenen Person den Eindruck, dass das da- malige eigene Handeln unhinterfragt blieb. Eher wird die betroffene Person selbst als „kranke“ Person beschrieben, der nicht geglaubt wird.

Ähnliches erfuhr die betroffene Person bei der Konfrontation eines anderen hochrangigen Kir- chengemeindemitglieds. Bei Erzählungen der eigenen sexualisierten Gewalterfahrungen stieß und stößt die betroffene Person auf Verantwortungsabweisung und Leugnung derartiger Über- griffe durch benannte Personen im Kirchenkontext.

Die Missbrauchserfahrungen, aber auch Positionierungen wie diese, wirken noch heute im Le- ben der betroffenen Person nach und werfen für sie insbesondere die Frage auf, „wie da so weg- gesehen wurde“ – vor allem vor dem Hintergrund der „nicht ganz unbedeutenden“, auch „stu- dierten“ Menschen, die darin involviert waren und pädosexuelle Gewalt und Übergriffe gedul- det, legitimiert und unterstützt haben. Damit werden in den Erzählungen der betroffenen Per- son Machtstrukturen sichtbar, die bis heute durch anerkannte und z. T. öffentlich bekannte Funktionsträger*innen, wie Kirchenmitglieder und Wissenschaftler*innen, erhalten werden. Die betroffene Person bezeichnet diese Strukturen als „Selbstverwalter“, denn – mit Blick auf die Wissenschaft – „dann ist es nicht mehr wissenschaftlich, dann ist das wie so eine Blase und dann wird nicht mehr genau geguckt, was passiert da eigentlich?“ Gleiches gilt für die kirchlichen Strukturen, im Kontext derer die betroffene Person aus Gesprächen berichtet, dass die Schilde- rungen und ihre Zweifel unvereinbar mit dem kirchlichen Standing und dem „Glaube an das Gute“ seien.

Für das Forscher*innenteam gilt es, diesen Hinweisen auf verschiedene Orte, spezifische Insti- tutionen und Personen weiter nachzugehen, um die Ermöglichungsstrukturen rekonstruieren zu können. Erzählungen wie diese machen deutlich, dass das Anliegen der Aufarbeitung nicht reduzierbar ist auf die Betrachtung von Kinder- und Jugendhilfestrukturen. Es wird deutlich, dass jene Netzwerke in Strukturen der evangelischen Kirche, u. a auch in Strukturen von Bil- dungseinrichtungen, hineinreichen und diese Stränge nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können.

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3.2 Forschungsperspektive II: Aktenanalyse

Um die verschiedenen Verwobenheiten des Netzwerks und darin die Rolle des damaligen Berli- ner Landesjugendamts auch über Berlin hinaus rekonstruieren zu können, wurden bzw. werden in einem ersten Schritt verschiedene Sorten von Akten analysiert. Hierbei handelt es sich um

  • Fallakten der Kinder- und Jugendhilfe in der Fallverantwortung des damaligen Landes- jugendamts (FE und FEH),
  • Kinder- und Jugendhilfeakten in der Fallführung lokaler Jugendämter in Deutschland,
  • Fallakten bei freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe sowie um
  • Aktenbestände verschiedener Archive (Landesarchiv Berlin, Hessisches Staatsarchiv,Stadtarchiv Göttingen und Niedersächsisches Landesarchiv).Bevor im weiteren Verlauf erste Zwischenergebnisse präsentiert werden, sollen zunächst die un- terschiedlichen Quellentypen der Akten und der Prozess der Erschließung ausführlicher be- schrieben werden.

3.2.1 Kinder- und Jugendhilfeakten

Akten der Fürsorgeerziehung (FE) bzw. der Freiwilligen Erziehungshilfe (FEH) in der Fallführung des Landesjugendamts Berlin

Durch den Berliner Leitfaden zur Akteneinsicht von 2014 (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2014) wurde offensichtlich, dass in der Berliner Senatsverwaltung ein Akten- bestand von 1150 personenbezogenen Akten der Fürsorgeerziehung (FE) bzw. der Freiwilligen Erziehungshilfe (FEH) vorhanden ist. Für diese Aufarbeitung wurde davon ausgegangen, dass sich über diese Akten nicht nur die organisationalen Verfahren des Landesjugendamts, sondern auch die Beziehungen und Verbindungen des Netzwerks aufschließen lassen.

Diese Akten unterliegen datenschutzrechtlich dem Sozialgesetzbuch. Für eine Einsicht wurde folglich ein Antrag nach § 75 Abs. 1 SGB X – Übermittlung von Sozialdaten für Forschung und Planung – bei der zuständigen Behörde, der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in Berlin, gestellt. Der komplexe Prozess der Erarbeitung dieses Antrags sowie zugehöriger An- lagen (Informationsschreiben, Einwilligungserklärung, Datenschutzerklärung) erfolgte in enger Abstimmung mit der Datenschutzbeauftragten des Landes Berlin, deren Anmerkungen in den Antrag stets eingearbeitet wurden. Der Antrag wurde von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in Berlin genehmigt. Folgendes Vorgehen wird in dem Antrag festgelegt:

1) Erschließung

Um aus den ca. 1150 Akten ein Sample aus ca. 30 Akten bei gleichzeitiger Wahrung datenschutz- rechtlicher Bestimmungen zu generieren, wurde wie folgt vorgegangen:

• Da aus datenschutzrechtlichen Gründen die Forscher*innen nicht selbst eine Sondie- rung der Akten vornehmen durften, wurde das Verfahren entwickelt, dass zwei Mitar- beitende des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildes- heim, die explizit nicht Teil des Forscher*innenteams der Aufarbeitung sind, von dem Forscher*innenteam für die Sondierung der Akten geschult wurden. Darüber hinaus wurde ein Suchraster erarbeitet, nach dem die ca. 1150 Akten von den beiden Mitarbei- ter*innen sondiert werden sollten.

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  • Die Zugehörigkeit der zwei Sondierenden zum Institut für Sozial- und Organisationspä- dagogik war erforderlich und angemessen, da diese einerseits über eine besondere in- haltliche sowie analytische Expertise verfügen, der es für eine zügige Sichtung sowie Sor- tierung der Aktenanzahl bedarf. Andererseits besteht zwischen diesen beiden Mitarbei- tenden und dem Forschungsteam, insbesondere Prof. Dr. Wolfgang Schröer und Prof. Dr. Meike Sophia Baader, kein Direktionsrecht, d. h. die beiden Mitarbeitenden sind nicht im Projektzusammenhang weisungsgebunden.
  • Für die Sichtung der Akten wurde ein Auftragsverarbeitungsvertrag zwischen der Se- natsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Berlin und der Universität Hildesheim gemäß Art. 28 DSGVO und gemäß § 80 SGB X geschlossen. In diesem Vertrag beauftragt die Senatsverwaltung die Universität Hildesheim mit der Sondierung der Akten bzw. Dokumente.
  • Die beiden Mitarbeitenden des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik, die mit der Sichtung und Auswahl der zu analysierenden Akten beauftragt wurden, haben im Zusammenhang mit der Auftragsverarbeitung eine Verschwiegenheits- sowie Befangen- heitserklärung unterschrieben, die sowohl in der Universität Hildesheim als auch in der Senatsverwaltung hinterlegt wurde.

2) Anonymisierung

  • Nach der Auswahl von bis zu – Stand jetzt – 30 Akten haben die beiden sondierenden Mitarbeiter*innen des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik die Akten einer bei der Senatsverwaltung angestellten Person, die die Akten für das Forscher*innenteam anonymisiert und aufbereitet, übergeben. Auch die Person, die die Anonymisierung durchführt, darf später nicht in die Analyse der Akten eingebunden sein. Zusätzlich wird ihre Schweigepflicht schriftlich eingeholt.
  • Vor Übermittlung zur Analyse an das Forscher*innenteam werden die Akten bzw. Do- kumente so anonymisiert, dass genannte Privatpersonen nicht identifizierbar sind. Ins- besondere werden alle Namen, Orte und weitere Hinweise, die Rückschlüsse auf sonstige Privatpersonen zulassen, geschwärzt.
  • Soweit Personen, die als Fachkräfte in den Fall eingebunden oder als Professionelle oder Dienstleister*in, z. B. im Rahmen der Fallbearbeitung, offiziell beauftragt waren, sowie Funktionsträger*innen, Personen des öffentlichen Lebens und Entscheidungsträger*in- nen in unterschiedlichen organisationalen Zusammenhängen in den Akten benannt werden, wird davon ausgegangen, dass die Übermittlung der Akten ohne eine Einwilli- gung und ohne Anonymisierung in der Regel durch die allgemeine Forschungsklausel in § 17 des Berliner Datenschutzgesetzes gedeckt ist. Anhand dieser Akten soll die Aufklä- rung der organisationalen Strukturen erfolgen, die Teil des Forschungszwecks ist und ohne Kenntnis der handelnden Personen nicht möglich sein dürfte.

3) Aktenanalyse – überblicksartige erste Erkenntnisse

Derzeit befindet sich das Forscher*innenteam in der Analyse der zur Verfügung gestellten ano- nymisierten Akten. In Hinblick auf die Rekonstruktion des Netzwerks und darin die Rolle des damaligen Berliner Landesjugendamts auch über Berlin hinaus lassen sich bislang folgende erste Ergebnisse zusammenfassen:

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3.

4.

5.

6.

7 Auch ments“

1.

2.

Als ein zentrales Ergebnis kann zunächst festgehalten werden, dass die bisher vorliegen- den Fallakten unterschiedliche Bezüge über Berlin hinaus aufweisen. Zwar bleiben die Akten stets in der Fallführung des Berliner Landesjugendamts, jedoch sind vielfältige Akteur*innen auch über Berlin hinaus am Hilfeverlauf beteiligt. So lassen sich z. B. Un- terbringungen in den Martin-Bonhoeffer-Häusern in Tübingen oder auch bei dem be- reits im vorausgehenden Ergebnisbericht beschriebenen Professor in West-Deutschland nachzeichnen.

In diesem Zusammenhang deutet sich als ein weiteres Ergebnis an, dass die Rolle der lokalen Jugendämter in diesen Fallverläufen zumindest als diffus – als verschwommen, bzw. in ihrer Zuständigkeit im Handeln als nicht klar positioniert – beschrieben werden kann. Hierfür finden sich Hinweise in den Akten selbst, etwa wenn die entsprechend lokalen Jugendämter in West-Deutschland postalisch direkt beim Landesjugendamt nach Mitteilung und Bestätigung über die von ihnen erteilte Pflegeerlaubnis bitten und dadurch ersichtlich wird, dass es zu einem Versäumnis in der Unterrichtung seitens des Landesjugendamts kam. Die Nachforschungen des Forscher*innenteams in diversen Ju- gendämtern in West-Deutschland (siehe unten) sind derzeit noch nicht abgeschlossen. Drittens wird fällt auf, dass sich alleinstehende Männer aus West-Deutschland junge Menschen aus Berlin, insbesondere aus dem Haus Tegeler See, „ausgesucht“ haben, die sie bei sich in Pflege oder Sonderpflege genommen haben. Dies war möglich, da persön- liche Netzwerke durch die unterschiedlichen Institutionen bestanden. Gemeinsamkei- ten dieser Männer konnten in den Akten zudem in der gezielten Nutzung persönlich- privater Beziehungen (auch zu Mitarbeitenden der Jugendhilfe), in einem gemeinsamen Fachverständnis und in ihren machtvollen Positionen (Mitarbeiter des Senats, Einrich- tungsleiter, Professor) gefunden werden.

Dieses Netzwerk wirkt auch insofern, als dass Akteur*innen des Netzwerks sowohl als Fürsprecher*innen agieren und dabei die Einrichtung von Pflegestellen und sog. Wohn- gemeinschaften ermöglichen als auch letztendlich die Fallkommunikation übernehmen, d. h. diese in großen Teilen nicht mehr vom Landesjugendamt bzw. deren Mitarbei- ter*innen gesteuert wird.

Das Haus Tegeler See scheint eine zentrale Rolle zu spielen, da es in verschiedensten Akten vorkommt, dass zumeist von dort aus die Kinder und Jugendlichen in West- Deutschland untergebracht wurden. Darüber hinaus wurden vom Haus Tegeler See aus- gehend unterschiedliche „pädagogische Experimente“ initiiert, in der Form, als dass bei alleinstehenden männlichen Mitarbeitern des Hauses Sonderpflegestellen eingerichtet oder intensivpädagogische Ferienfreizeiten über mehrere Monate begleitet von Studie- renden der Sozialen Arbeit finanziert wurden.7

Insgesamt deutet sich an, dass das Landesjugendamt seine Rolle als pädagogischer Ge- stalter von Schutzmaßnahmen und Hilfeverläufen nicht hinreichend ausgefüllt hat. Dies bedeutet, – so lässt sich bis zum jetzigen Zeitpunkt aus den Akten rekonstruieren – dass das Landesjugendamt seiner (öffentlichen) Fallverantwortung nicht ausreichend nach- gekommen ist, indem keine pädagogische Kontrolle ausgeübt wurde. Diese Kontrolle umfasst zum einen, dass die öffentliche Verantwortung besteht, dass in Betreuung gege-

in unserem Ergebnisbericht zur ersten Aufarbeitung haben wir herausgearbeitet, dass der Begriff des „Experi- im Kontext der Heim- und Bildungsreformen positiv konnotiert wurde und als „Reformträger“ galt.page15image3646808320

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benen Personen nichts passiert, zum anderen aber auch, dass keine pädagogischen Vor- gaben gemacht wurden. So gibt es erste Hinweise darauf, dass vielmehr einzelne Ak- teur*innen des Netzwerks die Kontrolle über Teile der Kinder- und Jugendhilfe überneh- men konnten.

Akten in der Fallführung der Jugendämter

Über die Analyse der Akten, über die Gespräche mit den Betroffenen und weiteren Zeitzeug*in- nen sowie über die Rezeption des fachöffentlichen Diskurses wurde deutlich, dass auch in den lokalen Jugendämtern Fallakten zu finden sein müssen, die das Netzwerk weiter aufschlüsseln und Verbindungen nach Berlin erkennen lassen.

Bisher wurden insgesamt acht Jugendämter (auch teilweise jeweils Stadt und Region bzw. Kreis) angefragt und ihre Archive und Bestände sowohl nach den Namen der Pflegestellen, in denen es zu (sexualisierter) Gewalt gekommen ist (wie z. B. die Pflegestelle Helmut Kentler) als auch nach Akten von Betroffenen durchsucht. Die Nennung der Namen geschah dabei einerseits unter Ein- willigung der Betroffenen selbst und andererseits nach Beratungen mit ausgewiesenen Rechts- expert*innen hinsichtlich der Nennung von Namen von Personen, von denen keine Einwilligung mehr eingeholt werden kann, und dies unter besonderen Bedingungen als datenschutzrechtlich zulässig gilt. Es gilt als datenschutzrechtlich zulässig, da es unter verschiedenen Verhältnismä- ßigkeitsabwägungen zu begründen ist:

  • Es wurde mit den Jugendämtern ein Verfahren vereinbart, dass diese nach den entspre- chenden Namen suchen und im Fall, dass eine Akte gefunden wird, diese anonymisiert wird und für die Forscher*innen nicht mehr nachvollziehbar sein wird, um welche Akte es sich handelt.
  • Der Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht von betroffenen Privatper- sonen wird als gering eingestuft, sodass dieses Vorgehen auch ohne Einwilligung der betroffenen Privatpersonen möglich ist.
  • Die entsprechenden Akten, in die Einsicht beantragt wird, sind mindestens 30 Jahre alt, sodass es nicht möglich ist, die Adressen der Privatpersonen ausfindig zu machen, um ihre Einwilligung einzuholen.
  • Darüber hinaus ist dieses Vorgehen durch das öffentliche Interesse an der Forschung zu rechtfertigen. Es geht um die Aufarbeitung (sexualisierter) Gewalt an Kindern und Ju- gendlichen in öffentlicher Verantwortung des Landesjugendamts Berlin mit Fokus auf strukturelle Defizite im Kontext des staatlichen Schutzauftrags.Die Mitarbeitenden der Jugendämter haben darüber hinaus Verschwiegenheitserklärungen un- terschrieben. Bis dato befinden sich einzelne Jugendämter noch in der Recherche. Zum aktuel- len Zeitpunkt ist zu vermerken, dass bislang in lediglich zwei Jugendämtern weiterführende Hinweise oder entsprechende Akten gefunden wurden. Diesen Hinweisen wird derzeit weiter nachgegangen. Insbesondere gilt es, ein Datenschutzkonzept zu erarbeiten, um in die entspre- chenden Akten Einsicht nehmen zu können.

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Weitere Fallakten bei freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe

Darüber hinaus ergaben sich über die Analyse der Fallakten sowie über einen Austausch mit dem Aufarbeitungsprojekt „Pädagogische Nähe und mögliche sexuelle Grenzverletzungen – wis- senschaftliche Aufarbeitung der Jahre 1976 – 1983 bei den Martin-Bonhoeffer-Häusern Tübin- gen“ 8 durch das IPP München Hinweise, dass es in mehreren Fällen Verwobenheiten zwischen dem Berliner Landesjugendamt, Pflegestellen in West-Deutschland und den „Sozialtherapeuti- schen Wohngruppen“9 bzw. den „Tübinger Jugendwohngruppen“ unter der Leitung Martin Bon- hoeffers sowie der Person Martin Bonhoeffer10 selbst gab.

Es wurde daraufhin nach § 75 Abs. 1 SGB X bei der zuständigen obersten Landesbehörde Baden- Württembergs, dem Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württem- berg, die Einsicht in zwei konkrete Fallakten beantragt, die in den Häusern der heutigen „kit Jugendhilfe“ lagern und in denen die oben beschriebenen Verwobenheiten dokumentiert sind. Der Antrag wurde am 28.10.2022 genehmigt.

3.2.2 Archive

Parallel zur Analyse der Fallakten wurde zudem in den Beständen verschiedener Archive recher- chiert. Die Auswertung der Archivbestände befindet sich derzeit noch im Analyseprozess, wes- halb an dieser Stelle lediglich die Vorgehensweise dargelegt wird.

Bestände des Landesarchivs Berlin

Das Landesarchiv Berlin archiviert u. a. Unterlagen von Berliner Behörden und Institutionen. Zentral sind für die Aufarbeitung solche Bestände, über die sich eine Rekonstruktion der Ver- antwortung und der Verwobenheiten des Berliner Landesjugendamts seit den 1960er Jahren er- arbeiten lässt. Dazu zählen Dokumente, Strukturen, Regelungen, Vorschriften, Verfahren und deren Veränderungen sowie damit einhergehende Aushandlungsprozesse, die möglicherweise Kontroversen aufzeigen.

Die Mitarbeiter*innen des Landesarchivs Berlin wurden gebeten, die Bestände nach verschiede- nen Schlagworten zu durchsuchen. Zu diesen Schlagworten zählen Begriffe, bei denen anzuneh- men ist, dass sie Verantwortlichkeiten des Landesjugendamts abbilden und/oder, dass sie Ver- wobenheiten zu anderen Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe aufweisen. Beispielhaft seien

8 Nähere Informationen zu dem Projekt finden sich unter: https://www.ipp-muenchen.de/praxisforschung/tuebin- gen-paedagogische-naehe-und-moegliche-sexuelle-grenzverletzungen (Letzter Zugriff: 11.10.2022).
9 Zunächst hieß die Einrichtung „Sozialtherapeutische Wohngruppen“. Martin Bonhoeffer wird ab 1976 Leiter. Ab 1982 wurde die Einrichtung in „Tübinger Jugendwohngruppen“ umbenannt. 1991, nach dem Tod Martin Bonhoeffers, trug die Einrichtung den Namen „Martin-Bonhoeffer-Häuser“. Nach den Vorwürfen um Martin Bonhoeffer heißt die Einrichtung seit 2020 „kit Jugendhilfe“. Ausführlicher siehe: https://www.kit-jugendhilfe.de/einrichtung/entwicklun- gen-vereinsgeschichte (Letzter Zugriff: 11.10.2022).

10 Zu der Person Martin Bonhoeffer wurde im Ergebnisbericht der vorausgegangenen Aufarbeitungsphase unter an- derem festgehalten, dass Martin Bonhoeffer in Verflechtungen/an Orten wie nach Berlin, Göttingen (hier z. B. im Haus auf der Hufe) und Tübingen aktiv war. In seiner aktiven Zeit im Landesjugendamt Berlin war er gemeinsam mit Peter Widemann zuständig für das Referat ‚Heimerziehung‘, worunter auch die Heimaufsicht gehörte (vgl. Kappeler 2016: 71). Martin Bonhoeffer und Peter Widemann waren mit Helmut Kentlers sexualpädagogischen Positionen be- kannt und mussten von entsprechenden eingerichteten Pflegestellen gewusst haben. Darüber hinaus war Martin Bon- hoeffer auch nach seiner aktiven Zeit in der Senatsverwaltung Berlins weiterhin in fachlichem Austausch mit dieser und es fanden Unterbringungen junger Menschen im Kontext der FEH und FE aus Berlin in die von ihm geleitete Einrichtung nach Tübingen statt. Es zeigen sich auch Verflechtungen der Odenwaldschule nach Berlin und der Ber- liner Senatsverwaltung und Martin Bonhoeffer (siehe Brachmann 2019) sowie die Kooperation zwischen Gerold Be- cker und Martin Bonhoeffer (siehe weiterführend auch Baader et al. 2020, Brachmann 2019).page17image3648649344page17image3648649616page17image3648649888page17image3648650224page17image3648650496

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hier folgende Schlagworte genannt: Martin-Bonhoeffer-Häuser, Jugendstrafanstalt Plötzensee, Schutzhilfe, Jugendschutzstellen, Bewährungshilfe, Jugendstraffälligenhilfe, Wohngemeinschaf- ten, Helmut Kentler u.V.m. Die Mitarbeiter*innen des Landesarchivs haben daraufhin Listen zum Thema der Kinder- und Jugendhilfe in Berlin ab den 1960er Jahren zusammengestellt. Aus diesen Listen wurden insgesamt 63 Archivalien ausgewählt. Für entsprechende Archivalien, die einer Schutzfrist unterlagen, wurde ein Antrag auf Schutzfristverkürzung nach § 9 Abs. 4 des Landesarchivgesetzes Berlin gestellt.

Bestände des Stadtarchivs Göttingen

In der weiteren Recherche zur Rekonstruktion des Netzwerks werden immer wieder Hinweise deutlich, dass ein Bezugsort dieses Netzwerks in dem Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen11 sowie in den Jugendhilfestrukturen der Stadt Göttingen gelegen zu haben scheinen (Frommann/Becker 1996; Oelkers 2016). Um dieses Netzwerk weiter zu analysieren und zu re- konstruieren, wurde eine Recherche im Stadtarchiv Göttingen durchgeführt. Es wird davon aus- gegangen, dass das Netzwerk quer durch verschiedene Organisationen und Institutionen bereits Anfang der 1960er Jahre im Göttinger Raum gegangen ist. Des Weiteren wird angenommen, dass sich das Netzwerk später weiter auf den Berliner Raum, eben u. a. auf das Berliner Landesju- gendamt, aber auch auf andere Institutionen in West-Deutschland, ausbreitete und dabei durch Institutionen, Organisationen, Diskurse zur Kinder- und Jugendhilfe und durch Personen ver- knüpft war.

Die Mitarbeiter*innen des Forscher*innenteams haben eine digitale Recherche zu den Bestän- den des Stadtarchivs Göttingen durchgeführt und Einsicht in 25 Archivguteinheiten sowie einen Antrag auf Schutzfristverkürzungen nach dem Niedersächsischen Archivgesetz beantragt.

Bestände des Hessischen Staatsarchivs in Darmstadt

Durch die Analyse der Fallakten, die Rezeption des fachöffentlichen Diskurses (Frommann/Be- cker 1996), mediale Recherchen (STERN 2010) sowie den Austausch mit dem ehemaligen Abtei- lungsleiter des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, Dr. Johannes Kistenich-Zerfaß, wurde deut- lich, dass es Verwobenheiten zwischen der Kinder- und Jugendhilfe Berlin sowie der Odenwald- schule gegeben hat. So wurden Kindern und Jugendlichen aus Berlin Hilfemaßnahmen in der Odenwaldschule eingerichtet und durch das Landesjugendamt Berlin bzw. durch bezirkliche Jugendämter Berlins belegt. Angesichts der (sexualisierten) Gewalt, die in der Odenwaldschule geschah (vgl. z. B. Brachmann 2015; 2019), sowie der engen Verbindung zwischen dem Landes- jugendamt Berlin und der Odenwaldschule über die Personen Martin Bonhoeffer und Gerold Becker wurde im Rahmen des aktuellen Aufarbeitungsprozesses eine Recherche im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt durchgeführt, in dem die Bestände zur Odenwaldschule archiviert sind.

In verschiedenen Gesprächen mit Mitarbeiter*innen des Hessischen Staatsarchivs wurde ge- meinsam sondiert, welche für die Aufarbeitung relevanten Bestände sich möglicherweise in die- sem Archiv befinden. Darüber hinaus haben die Mitarbeiter*innen des Forschungsteams die Be- stände des Archivs digital nach relevanten Schlagworten durchsucht. Für eine Analyse wurde

11 In diesem Kontext hat sich das Forscher*innenteam mit der Arbeitsgruppe des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Göttingen ausgetauscht, die zu dem Projekt „Die Geschichte der Göttinger Erziehungswissenschaft im Fokus aktueller Studien zu sexualisierter Gewalt in pädagogischen Kontexten“ forscht. Weitere Informationen zu dem Projekt finden sich unter: https://www.uni-goettingen.de/en/die+geschichte+der+göttinger+erziehungswissen- schaft+im+fokus+aktueller+studien+zu+sexualisierter+gewalt+in+pädagogischen+kontexten/631278.html (Letzter Zugriff: 11.10.2022).page18image3649080752page18image3649081024page18image3649081296

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die Einsicht in etwa 70 Archivguteinheiten angefragt, für die – soweit erforderlich – ein Antrag auf Schutzfristverkürzung nach dem entsprechenden Archivgesetz gestellt wurde.

In den Archivguteinheiten wurden für die Aufarbeitung relevante Dokumente gesichtet. Dabei handelt es sich um Dokumente wie Schüler*innen- sowie Lehrer*innenakten und Akten, die über die Strukturen der Odenwaldschule sowie über die Verbindungen zu Berlin Aufschluss ge- ben können.

Bestände des Niedersächsischen Landesarchivs, Abteilung Hannover

Abschließend wurde in die Bestände des Niedersächsischen Landesarchivs Einsicht genommen. Zum einen vor dem Hintergrund der Person Helmut Kentler und seiner beruflichen Tätigkeit in Hannover. Zum anderen wurde Hinweisen von Zeitzeug*innen und der bis dato erfolgten Ak- tenrecherche nachgegangen, die auf Unterbringungen von Kindern und Jugendlichen aus Berlin in Niedersachsen hingewiesen haben.

Insgesamt wurden diesbezüglich 24 Archivgüter eingesehen. Für diese wurden ein Nutzungsan- trag sowie für einige der Archivalien auch Schutzfristverkürzungsanträge nach dem Niedersäch- sischen Archivgesetz gestellt.

3.3 Forschungsperspektive III: Zeitzeug*inneninterviews

Eine dritte Forschungsperspektive stellen Zeitzeug*inneninterviews dar. Dabei werden Zeit- zeug*innen gesucht bzw. wurden interviewt, die nicht nur etwas über die damalige Kinder- und Jugendhilfe in Berlin berichten können. Es werden vielmehr solche Zeitzeug*innen interviewt und gesucht, die explizit einerseits generell Auskunft zu den Verwobenheiten des Berliner Lan- desjugendamts geben können und die andererseits in Institutionen oder Organisationen tätig waren, die enge Verbindungen zu dem Landesjugendamt Berlin hatten.

Zeitzeug*innen-Sampling

Der Fokus der Suche nach möglichen Zeitzeug*innen richtet sich demnach primär auf Personen, die Auskunft über die Zusammenhänge, Rahmenbedingungen, Entscheidungswege sowie Ver- flechtungen der Arbeit des damaligen Berliner Landesjugendamts geben können. Der Prozess der Zeitzeug*inneninterviews ist zirkulär angelegt bzw. folgt weiterführenden Hinweisen der einzelnen Interviews sowie Aktenanalysen. Insgesamt gestaltet sich die Suche nach Zeitzeug*in- nen als herausfordernd, da viele mögliche Zeitzeug*innen bereits verstorben sind, nach einer so langen Zeitspanne nicht mehr auffindbar sind, nicht über die Zusammenhänge, ihre Verflech- tungen oder ihr Wissen sprechen möchten oder bereits ein sehr hohes Alter erreicht haben, das ihre Erzählungen beeinträchtigt. Aus diesem Grund wurden und werden Aufrufe veröffentlicht, in denen explizit Zeitzeug*innen zu verschiedenen Organisationen gesucht werden.

Insgesamt sind die Befragung und die Analyse der Zeitzeug*innen noch nicht abgeschlossen. Gegenwärtig werden weitere Zeitzeug*innen gesucht, weitere Interviews geführt sowie analy- siert.

3.4 Forschungsperspektive IV: Fachöffentlicher Diskurs

In dieser Forschungsperspektive werden Dokumente aus dem Zeitraum der 1960er bis 2000er Jahre analysiert, die sich auf die Berliner Kinder- und Jugendhilfe beziehen. Dies sind Doku-

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mente über das Landesjugendamt in Berlin, über die Jugendstrafanstalt Plötzensee, Veröffentli- chungen über Maßnahmen der FE und FEH, über das JWG, Publikationen von und über Perso- nen wie Martin Bonhoeffer und die Odenwaldschule und weitere Institutionen im Falle mögli- cher Verflechtungen. Jene Dokumente werden dabei unter Aspekten und Kategorien, die für die Fragestellung relevant sind, mittels einer Dokumentenanalyse bearbeitet.

4. Zwischenfazit und Perspektiven für das weitere Vorgehen

In der Gesamtschau der vier Forschungsperspektiven lässt sich bis heute festhalten, dass das von uns im Rahmen der vorausgehenden Aufarbeitung rekonstruierte Netzwerk über teilweise enge Beziehungsstrukturen verfügte (Baader et al. 2020). Es kann davon ausgegangen werden, dass neben denjenigen, die persönlich sexualisierte Übergriffe ausgeübt haben – wie z. B. Helmut Kentler oder der Professor der Sozialpädagogik aus West-Deutschland – ein Netzwerk von Ak- teur*innen existierte, die direkt oder indirekt Konstellationen mit geschaffen haben, durch die sexualisierte Übergriffe möglich wurden oder als „Bystanders“ von diesen sexualisierten Über- griffen gewusst haben, ohne diese weitergehend zu problematisieren oder gar anzuzeigen.

Dieses Netzwerk reichte deutlich über Berlin bis in verschiedene Regionen West-Deutschlands hinaus und konnte an unterschiedliche Infrastrukturen der Kinder- und Jugendhilfe, Hochschu- len oder der evangelischen Kirche anknüpfen und sich durch diese auch öffentlich normalisieren oder gegenüber Anfragen immunisieren. Das Landesjugendamt Berlin kann dabei – nach dem derzeitigen Erkenntnisstand – als ein zentraler Ort ausgemacht werden, der als eine solche Inf- rastruktur dem Netzwerk ermöglichte, Konstellationen zu schaffen, in denen sexualisierte Über- griffe ausgeübt wurden.

Neben Akteur*innen aus dem Landesjugendamt nahmen Wissenschaftler*innen in dem Netz- werk eine besondere Stellung ein. So waren Orte der Wissenschaft sowie der sozialpädagogi- schen Fachentwicklung („experimentelle“ oder neue Angebote) Infrastrukturen, an denen Akti- vitäten von Akteur*innen vernetzt, Konstellationen geschaffen oder diese gegenüber Anfragen immunisiert wurden. Dies war nur möglich, da hier auch aktive Befürworter*innen Pädophilie legitimierender Positionen und eine Reihe von sog. „Bystanders“ – Personen, die von den sexu- alisierten Übergriffen wussten oder starken Signalen nicht nachgingen – aktiv waren und auch in führenden Positionen diese bagatellisierten. Dabei wurden auch Konstellationen geschaffen und mitverantwortet, in denen junge Menschen sexualisierte Übergriffe erlebt haben, die weiter über die (rechtlich) formalisierte Kinder- und Jugendhilfe hinausreichen, aber letztlich als Re- form der Kinder- und Jugendhilfe galten und immunisiert wurden.

Vor dem Hintergrund der hier nachgezeichneten Lage ergibt sich für die wissenschaftliche Auf- arbeitung daher die Notwendigkeit, ihre Perspektiven zu öffnen und über die Pflegekinderhilfe hinaus die Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe und auch der wissenschaftlichen Fachent- wicklung sowie der evangelische Kirche zu beleuchten. Ziel des vorliegenden Zwischenberichts ist es daher, auf diese notwendige Öffnung hinzuweisen und transparent zu machen, welchen Hinweisen und Anhaltspunkten das Forscher*innenteam bisher folgen konnte bzw. gefolgt ist und wie dabei jeweils methodisch vorgegangen wurde. Im weiteren Aufarbeitungsprozess wird es darum gehen, das hier rekonstruierte Netzwerk weiter zu analysieren und zu beschreiben.

Abschließend möchten wir noch einmal Betroffene und Zeitzeug*innen aufrufen, sich bei uns zu melden, die mit ihren Erfahrungen und ihrem Wissen die Aufarbeitung unterstützen können.

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Literatur

Baader, Meike S./Oppermann, Carolin/Schröder, Julia/Schröer, Wolfgang (2020): Ergebnisbe- richt „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe. Universitätsverlag Hil- desheim. Abrufbar unter https://doi.org/10.18442/129.

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Becker, Sophinette (2017): Aktuelle Diskurse über Pädosexualität/Pädophilie und ihre Leerstel- len. In: Baader, Meike Sophia/Jansen, Christian/König, Julia/Sager, Christin: Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968. Köln: Böhlau Verlag. S. 313–326.

Brachmann, Jens (2019): Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klink- hardt.

Brachmann, Jens (2015): Reformpädagogik zwischen Re-Education, Bildungsexpansion und Missbrauchsskandal. Die Geschichte der Vereinigungen Deutscher Landerziehungsheime 1947- 2012. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

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Hax, Iris/Reiss, Sven (2021): Vorstudie: Programmatik und Wirken pädosexueller Netzwerke in Berlin – Recherche. Berlin (https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/forschung- studien-kindesmissbrauch/vorstudie-paedosexuelle-netzwerke-berlin/).

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Nentwig, Teresa (2021): Im Fahrwasser der Emanzipation. Die Wege und Irrwege des Helmut Kentler. Vandenhoeck & Ruprecht.

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